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Abenteuerliches Ränkespiel

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zur Einführung in die Wendekapitel

 

I

Am folgenden Tag waren die Gesprächspartner schon früh auf den Beinen. Nach der Maßstäbe setzenden Hintergrundbetrachtung stand nun der operative Vorgang auf dem Plan, und man war gewillt, das schwierige Unterfangen bis zum Abend unter Dach und Fach zu bringen. Schon beim Frühstück versuchte Brückner loszuwerden, was ihn bewegte.
»Ehe wir uns ins Getümmel stürzen ... da wären noch ein paar verfahrenstechnische Dinge zu besprechen. Sie erinnern sich doch an das, was ich gestern über den Erklärungsspielraum und die beiden möglichen Versionen gesagt hatte?«

»Ja natürlich.«

»Wunderbar. Dann sollten wir jetzt diesen Erklärungsspielraum auch wirklich nutzen, sofern wir das nicht schon gestern im Rahmen unserer grundsätzlichen Betrachtung getan haben.«

»Und wie stellen Sie sich das vor?«

»Ich denke, wir versuchen es folgendermaßen. Der operative Wendevorgang in der damaligen DDR – dem wohl markantesten Vertreter der Satellitenstaaten – wird durch drei Ereignisse entscheidend bestimmt: erstens durch die Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich am
10. September '89
als Initialzündung für Massenexodus und Protestwelle, zweitens durch die Leipziger Demonstration vom 9. Oktober '89 als Fanal für die beginnende Außerkraftsetzung der Diktatur und drittens durch den Fall der Berliner Mauer am 9. November '89 als entscheidende Weichenstellung für die schnelle, unumkehrbare Vereinigungsentwicklung. – Das Faktum dieser drei Ereignisse ist völlig unbestritten, hingegen wie es wirklich dazu kam und was Verlauf und Ausgang derselben letztlich bestimmte, das ist bis heute Ansichtssache der Historiker und entzieht sich der Beweisbarkeit. An eben dieser Stelle werden wir mit der Physik des gesellschaftlichen Wandels ansetzen und herausarbeiten, worum sich die offizielle Geschichtsschreibung nicht kümmert. Am Ende steht unser Ergebnis der landläufigen Darstellung im Glaubwürdigkeitsvergleich gegenüber.«

»Wahrscheinlich werden sich die Dinge niemals im Sinne einer unzweifelhaften Beweisführung klären lassen«, fügte Brückner nachdenklich hinzu, »und – falls Ihnen das Ganze wirklich ernst ist – wird Sie die Suche nach der Wahrheit ein Leben lang begleiten.«

Adrian war ungeduldig geworden.
»Sie gehen also davon aus, dass von allein nichts losgegangen wäre. Doch wie nun weiter? Wie sollte die durchschlagende Protestbewegung praktisch in Gang gesetzt werden?«

»Wenn Sie das Prozedere des Drehbuchs noch nicht ganz vergessen haben, müssten Sie eigentlich von selbst drauf kommen.«

»Gorbatschow!«

»Genau. Ohne den wäre so gut wie nichts geworden. Er war die graue Eminenz der Wende, die, wann immer es darauf ankam, der Entwicklung zum Durchbruch verhalf, ohne dabei sichtbar in Erscheinung zu treten.«

»Um das schaffen zu können, müsste er über einen speziellen Apparat verfügt haben, der den verdeckten Eingriff möglich machte. Das dürfte aber schwerlich zu beweisen sein, so dass Ihre schöne Theorie als reine Spekulation verpufft.«

»Na, ganz so schwarz sehe ich die Dinge nicht. Aber Sie haben recht. Am Nachweis des Apparates hängt die ganze Theorie, deshalb hätte ich mich nie damit hervorgewagt, wenn es diesen Nachweis nicht tatsächlich gäbe.«

»Unmöglich.«

»Doch, es gibt ihn, und er resultiert aus der unbestrittenen Existenz zweier Faktoren. – Man macht gewiss keinen Fehler, wenn man davon ausgeht, dass nach dem Machtantritt Gorbatschows auch in der damaligen DDR bei einer Reihe von Verantwortungsträgern so etwas wie ein Wandlungs- und Umdenkungsprozess eingesetzt hatte. In den systemnahen Bereichen der Gesellschaft – Parteiapparat, Stasi, NVA, MdI, Volksbildung und Verwaltung, um nur einige zu nennen – hatte sich mal mehr und mal weniger eine Art Perestroika-Flügel gebildet. Es war nicht zu verhindern – an Gorbatschow schieden sich die Geister. Da diese Entwicklung im Gegensatz zur Sowjetunion nicht Gegenstand der öffentlichen Diskussion gewesen war, hatten die Perestroika-Fans im Volk der DDR davon kaum etwas mitbekommen, und später war es den ›selbstbewussten Revolutionären‹ auch nicht mehr beizubringen. Und so kam es, wie es kommen musste: Das Volk erlebte die Wende im beschränkten Bewusstsein von ›Gut‹ und ›Böse‹. Während den Vorbildern in der Sowjetunion gehuldigt wurde, hat man den flexiblen Funktionären im eigenen Land eine analoge Entwicklung kaum zugebilligt. Man konnte oder wollte nicht erkennen, dass sich auch hier ein Teil des ›Bösen‹ gewandelt hatte, um der Entwicklung nicht im Wege zu stehen.«

»Und Sie glauben, dass diese Leute den Öffnungsprozess in der DDR aktiv mitbestimmt haben?«

»Unbedingt, besonders dann, wenn sie in einflussreichen Positionen waren. – Nun aber zu jenen Kräften, die – möglicherweise im Zusammenwirken mit dem besagten Perestroika-Flügel – den verdeckten Eingriff federführend praktizieren sollten. Im Hinblick auf die demokratische Umgestaltung der Satellitenstaaten war Mitte der 1980er Jahre eine Operativgruppe des KGB gebildet worden – die Gruppe Luch –, die im Auftrag Gorbatschows eine rege Tätigkeit entfaltete. Es handelte sich dabei um eine innerhalb des KGB selbständige und zentral gelenkte Einheit, die Mitstreiter aus allen Bereichen der Gesellschaft zu gewinnen suchte. Luch samt rekrutiertem Potential sowie die ›Gorbatschow-Fraktion‹ in SED und Stasi standen im Sommer '89 ›Gewehr bei Fuß‹, um auch in der DDR perestroika-ähnliche Verhältnisse entstehen zu lassen – vorerst jedenfalls. Soweit die historischen Fakten. Was aber ein solch konspirativ arbeitender Apparat konkret zur Grenzöffnung in Ungarn, zum Erfolg der Leipziger Demonstration und besonders zum Mauerfall beizutragen vermochte, das muss selbstredend außerhalb der Fakten gesucht werden. Verständlicherweise müssen all jene, die allein auf den ›Freiheitsdrang der Unterdrückten‹ und das Glück des Tüchtigen setzen, die genannten Kräfte in ihrem Geschichtsbild als störend empfinden. Also untersuchen sie die Dinge gar nicht erst und tun so, als ob es sie nicht gäbe. Wer aber erkennt: Es gab maßgebende Kräfte außerhalb der DDR, die schon seit Jahren nicht nur eine Demokratisierung, sondern die Einheit Deutschlands wollten, es gab eine wenngleich schwache, so doch steigerungsfähige oppositionelle Grundhaltung im Volk, und es gab einen verdeckt agierenden Apparat, um die notwendige Steigerung und ›manch anderes mehr‹ zu initiieren – wer dies alles erkennt, der müsste schon mit dem Klammersack gepudert sein, wenn er nicht versuchte, das Ganze in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen.«

Brückner, mit dem Frühstück längst fertig, schaute auf die Uhr.
»Eigentlich wollte ich ja schon ein ganzes Stück weiter sein, aber es braucht eben alles seine Zeit. Ehe wir hier noch Wurzeln schlagen, sollten wir uns an die frische Luft begeben; dort können wir nach Lust und Laune weiterdiskutieren.«

 

II

Wenig später hatten die Männer das Haus verlassen und marschierten in Richtung Granitz. Ihr erstes Ziel war der Schwarze See, ein Ort, dessen märchenhafte Kulisse Brückner besonders liebte. Hier lagerten sie im hohen Gras, sich ganz der unberührten Natur überlassend. Die bewegungslose, dunkle Wasserfläche des Sees vor Augen, begann Adrian den Faden wieder aufzugreifen.
»Was meinten Sie vorhin, als Sie von einer schwachen, aber steigerungsfähigen, oppositionellen Grundhaltung sprachen?«

»Es war die Umschreibung dafür, dass es zwar wachsende Unzufriedenheit und Kritik, nicht aber eine Oppositionsbewegung – etwa im Stile der polnischen Solidarność – gegeben hat; noch im Sommer '89 war etwas Derartiges nicht zu erkennen. Dabei stelle ich nicht in Abrede, dass es eigenständige Oppositionsgruppen und Demokratiebestrebungen gegeben hat. Die Frage ist nur, welches Gewicht und welchen Einfluss diese Kräfte besaßen. Darüber hinaus gab es, besonders in den letzten Jahren vor '89, eine ganze Ausreisebewegung. Ständig stieß man auf Leute, die ihr Image an der Tatsache festmachten, dass sie einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Überhaupt waren die Menschen aufmüpfiger geworden und riskierten mehr, alles in dem Bewusstsein: ›Die Russen machen da drüben Perestroika, und hier regiert noch immer die Verkalkung!?‹ Es gab damals eine seltsame, schwer zu beschreibende Erwartungshaltung, aber keine zwingende Not, die die große Masse der Werktätigen zu oppositionellem Handeln oder gar zum Umsturz getrieben hätte. Ich habe als Kind den
17. Juni 1953 erlebt. Damals waren Zehntausende unter dem Druck der Verhältnisse auf die Straße geströmt, um ihrem Unmut gegen den
SED-Staat Luft zu machen. Von diesem Unmut war im Sommer '89 in den großen Betrieben der DDR nichts zu spüren. Eher wurde mit Galgenhumor gefrotzelt: ›Wer durchaus in den Westen will – na bitte, wir andern halten durch, denn hier kann's doch nur besser werden.‹ Man sprach's und fuhr in Massen gen Süden ins schöne sozialistische Ausland – etwa nach Ungarn. Kurzum: Allein aus dieser Grundhaltung heraus hätte niemals eine Bewegung entstehen können, die imstande war, das ganze System aus den Angeln zu heben. Die im Untergrund agierenden Oppositionellen, die sich – fernab von der großen Menge in den Betrieben – als Kirchenleute, Künstler oder Wissenschaftler empfindlich am totalitären Staate rieben, werden die Situation möglicherweise anders erlebt haben; auf das gesellschaftliche Kräfteverhältnis aber vermochten sie kaum Einfluss zu nehmen, ungeachtet ihrer Verdienste, die ihnen niemand absprechen kann.«

»Es musste also von außen nachgeholfen werden, das sehe ich ein. Aber wie sollte eine durchschlagende Protestbewegung ins Leben gerufen werden, ohne dabei die ›polnische Strategie‹ zu bemühen?«

»Eine solche war in der DDR nicht praktikabel, hier musste man sich schon etwas anderes einfallen lassen. – Wir wollen noch einmal rekapitulieren. Gorbatschow – vom Westen mit der Aufgabe betraut, demokratischen Verhältnissen auf die Sprünge zu helfen –, stand in der DDR vor einem schwierigen Problem. Er konnte Honecker, der eine Öffnung seines Einflussbereiches rundweg verweigerte, nicht einfach absetzen, wenn der positive Leumund seiner Perestroika nicht beschädigt werden sollte. Gefragt war eine unverfängliche Aktion mit dem Ziel, die Parteispitze zum Rücktritt und das System zum Einlenken zu bewegen. Nur eine gewaltige, das ganze Land erfassende Protestbewegung konnte den Druck für die Außerkraftsetzung der Diktatur erzeugen – das wäre für jedermann glaubhaft und legitim. Wie aber die Protestbewegung anfachen, in einer Gesellschaft, die nur ungenügend Neigung dafür zeigte? Wer über diesem Problem brütete, landete früher oder später bei der Frage: Gab es vielleicht einen anderen, weitaus stärkeren ›Neigungsdruck‹, den man nur abzulassen brauchte, um die gewünschte Protesthaltung als Nebenwirkung zu erzeugen? Aber natürlich – und eben dies war des Rätsels Lösung. Zehntausende wollten lieber heute als morgen das Land verlassen und konnten es nicht. Und ebenso viele spielten mit dem verlockenden Gedanken. Für diese Leute konnte man durchaus etwas tun, und die Daheimgebliebenen würden die ihren Mitbürgern zuteilgewordene Freiheit im eigenen Lande einzuklagen versuchen. Ungarn als bevorzugtes Reiseland der DDR-Bürger und im Öffnungsprozess bereits fortgeschritten, schien für ein solches Unternehmen besonders geeignet.«

»Vorausgesetzt, das Druckventil konnte dort in aufsehenerregender Art und Weise geöffnet werden?«

»Genau das war der Punkt. Doch wer sollte das Druckventil bedienen? Die Ungarn hatten keine Veranlassung dazu. Auch eine politische Intervention kam nicht in Frage; wachsame Demokraten hätten das missverstehen können. Blieb nur, die DDR-Bürger rüttelten selbst so kräftig am Zaun, dass man ihn schließlich guten Gewissens öffnen konnte. Wer immer auch angeordnet oder zumindest gebilligt hatte, dass die Ungarn bereits im Mai '89 die Sperranlagen an ihrer Grenze zu Österreich entfernten, musste diese Entwicklung im Auge gehabt haben. Da Ungarn Mitglied des dazumal noch gültigen Warschauer Paktes war, gibt es keinen Zweifel, dass nur der Kreml höchstselbst den folgenschweren Befehl gegeben haben konnte. Es war der gezielte Startimpuls für die Wende, und er kam ›von oben‹. Alles, was hernach ›von unten‹ folgte, waren beabsichtigte, sorgfältig gesteuerte Reaktionen. – Die von Fernsehstationen weltweit übertragene Demontage des Eisernen Vorhangs verstärkte den Urlauberstrom nach Ungarn gewaltig. Viele DDR-Bürger suchten nach einer günstigen Gelegenheit, die ihrer Abschreckung enthobene Grenze zu überwinden. Im Rahmen des sogenannten ›pan-europäischen Picknicks‹ in Sopron am 19. August '89 kam es dann zur ersten Massenflucht. Die durch Handzettel angelockten DDR-Bürger drückten einfach ein Grenzgatter auf und rannten in die ersehnte Freiheit. Auf österreichischer Seite wurden die rund siebenhundert Überläufer bereits erwartet und für die Weiterreise in die Bundesrepublik präpariert. Wer wird wohl die Handzettel verteilt und den österreichischen Grenzern ein paar freundliche Tipps hinsichtlich des zu erwartenden Ansturms gegeben haben? War es wirklich nur eine spontane Friedensgeste ungarischer Bürgerrechtler und Politiker, die das Happening samt temporärer Grenzöffnung organisiert hatten? Oder hatte vielleicht die ›graue Eminenz‹ persönlich den Anstoß zu dieser Veranstaltung gegeben, um sie für ihre Zwecke zu benutzen? Seltsamerweise werden diese Fragen nie gestellt, nicht von den Betroffenen und von den Historikern schon gar nicht.«

»Aber ist dies alles nicht auch denkbar, ohne dass man hätte nachhelfen müssen?«

»Sicher. Nur ist das kaum von Belang. Wesentlich ist, dass die Strippenzieher im Hintergrund nicht auf die Gnade des Zufalls angewiesen waren und dank der Gruppe Luch und westlicher Geheimdienste – jederzeit steuernd eingreifen konnten. Ein paar Gerüchte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, haben damals Geschichte geschrieben. Und im Übrigen, ich erinnere mich noch genau, wie hektisch die Leute im Spätsommer '89 ihre Koffer gepackt haben, bloß weil sie von irgendwem etwas gehört oder irgendwelche Bilder gesehen hatten. Es war eine hysterische Stimmung im Land nach der Devise: Das ist die letzte Chance, diesem jämmerlichen Dasein zu entkommen. Und einer hat's dem andern eingeredet.«

»Sie waren offensichtlich nicht in dieser Stimmung?«

»Nein, ich habe das nie so richtig verstanden. Die Meisten führten doch ein ganz normales Leben – mit Trabi und FDGB-Ferienplatz, nicht selten auch mit GENEX, Intershop und harter Währung. Es herrschte Mangelwirtschaft, ohne Frage, aber – wie schon gesagt – die Leute litten keine Not, geschweige denn, dass permanente Existenzangst ihren Alltag verdüsterte. Sie schickten ihre Kinder fast ausnahmslos zur Jugendweihe, beanspruchten ganz selbstverständlich ihren Arbeitsplatz und jubelten dem Generalsekretär auf den großen Sportfesten zu, ohne dass man sie dazu hätte zwingen müssen. Nur einer Minderheit dürfte die zweifelhafte Ideologie ernsthaft zu schaffen gemacht und die gewünschte Karriere verdorben haben, und verschwindend klein war die Anzahl derer, die tatsächlich auf kriminelle Art und Weise verfolgt wurden, womit ich nichts herunterspielen will. Das einzige, was den meisten wirklich wehtat, war: Sie konnten nicht in den Westen reisen und mussten auf den Wohlstand der freien Welt verzichten – einer Welt, deren unsoziale Auswüchse sie blindlings übersahen. Je länger sie durch den geöffneten Türspalt ›ins Freie‹ schauten, desto stärker wuchs die Unzufriedenheit und mithin das Verlangen nach dem großen Glück. Viele haben das nicht länger ausgehalten. Und plötzlich mussten sie alle weg, als gälte es das Leben. Ich hatte mich stets um ein klares Verhältnis zum System bemüht und gehörte zu denen, die sich beträchtlich an ihm rieben. Ich wusste, warum ich hier und nicht im goldenen Westen lebte; bereits in meiner Jugend hatte ich mich frei entschieden. An meiner Haltung hatte sich im Sommer '89 nichts geändert, so dass ich auch nicht das Land verlassen musste, als wenn die Pest dort ausgebrochen wäre. Dabei hatte ich Verständnis für all jene, die die Gunst der Stunde nutzten, um aus ihrer unverschuldeten Misere endlich herauszukommen oder der Schikanierung durch den Staat zu entgehen. Auch allen anderen war ich nicht böse – schließlich war jeder seines Glückes Schmied, und das Eisen schien damals in der Tat zu glühen.«

»Und wie ging's nach der ersten Massenflucht weiter?«

»Natürlich hatte dieses Ereignis seine Wirkung auf die ausreisewilligen DDR-Bürger nicht verfehlt, so dass der Druck an der ungarischen Grenze weiter wuchs. Doch am singulären Charakter der Grenzübertritte änderte sich wenig, solange der Zaun nur kurzzeitig geöffnet oder illegal durchbrochen wurde. Erst dann, wenn er für die DDR-Bürger gänzlich offen stand, konnte der Flüchtlingsstrom auf die Stärke anwachsen, die für die Herausbildung des ›Nebeneffekts‹ notwendig war. Am 10. September '89 wurde die Grenze schließlich dauerhaft geöffnet. Gleichzeitig gewährte die Bundesrepublik Ungarn einen Kredit von 500 Millionen DM – ein Vorgang, bei welchem Gorbatschow vielwissend aus dem Kremlfenster blickte und den Genossen in Budapest ermutigend zuwinkte. So wurde die erste Hürde auf dem Weg zur deutschen Einheit genommen.«

»Von diesem Kredit habe ich bislang nichts gehört.«

»Das will ich gerne glauben. Die Politiker bestreiten zwar nicht den Fluss des Geldes, wehren sich aber gegen die Behauptung, dass die Grenzöffnung damit erkauft worden sei. Es erübrigt sich, über diplomatische Sophismen zu streiten. Fest steht, dass es keineswegs selbstverständlich war, dass die Ungarn ihre ›sozialistischen Brüder‹ im Stile einer Völkerwanderung einfach ziehen ließen, denn die Genossen in Budapest waren gegenüber der DDR an bis dato geltende Vereinbarungen gebunden, über die sie sich schlicht hinwegsetzen mussten. Da schien eine ›kleine Aufmerksamkeit‹ durchaus am Platze.«

»Gibt es Hinweise darauf, dass die Ungarn zur Grenzöffnung gedrängt wurden?«

»Gewiss. Fünfzehn Jahre später war Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Personality-Show des Fernsehens ziemlich redselig, als er stolz verkündete, er hätte natürlich gewusst, dass die Ungarn am 10. September '89 die Grenze aufmachen würden. Ministerpräsident Németh hätte dies auf seine Bitte hin veranlasst. - Im Herbst '89 hätte Kohl das eitle Geständnis wahrscheinlich Kopf und Kragen gekostet.«

 

III

»Nun war die Grenze offen und der Dammbruch perfekt.«

»So könnte man sagen. Was im Weiteren einsetzte, ist nur vorstellbar, wenn man es miterlebt hat. Das Fluchtgeschehen eskalierte zu einem gewaltigen Exodus, dessen Umfang ständig zunahm. Dazu kam die Besetzung der Botschaften in Ost-Berlin, Budapest, Prag und Warschau, die schließlich auf diplomatischem Wege in Richtung Bundesrepublik entvölkert wurden. Jeden Montag im Betrieb die bange Frage, ob denn noch alle da waren und wer nun schon wieder das sinkende Schiff verlassen hatte. Es war frustrierend auf der ganzen Linie, und die Dableiber beschlich das ungute Gefühl, irgendetwas falsch zu machen. Dabei feierten die Medien jeden glücklich in der Bundesrepublik gelandeten Flüchtling als Sieg der Freiheit über die finstere Diktatur. Die dort Verbliebenen mussten sich schließlich gegen das marode System erheben, wenn sie nicht in den Geruch kommen wollten, spießige Untertanen zu sein, die es versäumten, ihr Leben beherzt in die eigenen Hände zu nehmen. Auf diesen Moment aber hatten die Drahtzieher der Wende nur gewartet, und ihre Rechnung war voll und ganz aufgegangen.«

»Das heißt, die Protestwelle als Nebenwirkung der Fluchtwelle war im Honecker-Land ins Rollen gekommen.«

»Das ist richtig. Jetzt gingen die Leute zuhauf auf die Straße. Betrachtet man den kompletten Vorgang von der provozierten Grenzöffnung im September bis etwa zum Jahreswechsel 1989/90, dann war es wie bei der Entstehung einer Lawine, die im Rollen ihren Durchmesser ständig vergrößerte und am Ende den totalitären Staat unter sich begrub. Dieses Bild widerspiegelt aber nur den äußeren, vordergründigen Aspekt; wir werden sehen, dass noch andere mit einbezogen werden müssen.«

»Etwa die Bürgerbewegung.«

»Auf jeden Fall. Vor dem Hintergrund der anwachsenden Protestwelle traten die Oppositionsgruppen zunehmend an die Öffentlichkeit und ihre Mitgliederzahl wuchs ständig. Dazu kamen neue Zusammenschlüsse und Parteien, die im Aufwind der Perestroika gegründet worden waren. Alle diese Gruppen arbeiteten – in der Regel unabhängig voneinander – an der Abschaffung der SED-Diktatur sowie an einer grundlegenden Reform des sozialistischen Staates. Zieht man den ›Apparat für den verdeckten Eingriff‹ mit ins Kalkül, dann war es eine unheimliche Allianz, die da am Ast des totalitären Staates sägte, denn die Revolution von oben bekämpfte konspirativ den gleichen Feind wie die offen agierende Revolution von unten, die dabei unmerklich am kurzen Zügel geführt wurde. Anders ausgedrückt: Der sowjetische Geheimdienst KGB (in Gestalt der Gruppe Luch) zog gemeinsam mit dem Perestroika-Flügel in SED und Stasi sowie der Bürgerbewegung und den demonstrierenden Massen an einem Strang. Alles in allem ein gemischtes Völkchen – grundverschiedene Menschen, von denen nicht wenige erschrocken wären, wenn sie gewusst hätten, wer da alles mit im Boot saß. Aber so war das nun mal in jenen bewegten Zeiten, in denen das Rad der Geschichte gedreht wurde.«

»Den demonstrierenden Massen von damals dürfte es wohl kaum gefallen, wenn sie an die letzte Stelle derer gesetzt werden, die das Rad der Geschichte gedreht haben.«

»Ich kann sie gern auch an die erste Stelle setzen. Entscheidend ist, dass für alle in der Allianz auftretenden Kräfte die Art und Weise ihrer Mitwirkung im Drehbuch derer, die von außen die Fäden zogen, weitgehend festgelegt war. Dass unter diesem Aspekt die Wende zu einer großen Inszenierung mit nur begrenztem Spielraum für demokratische Spontaneitäten wird, das mag so manchem nicht gefallen. Wer damit nicht zurechtkommt, möge bedenken, was die friedliche Revolution bis zum Mauerfall auf ihrem ›Fahrplan‹ stehen hatte und was hernach daraus geworden ist. Nur zur Erinnerung: Die (militär)wirtschaftliche Entwicklung im Ostblock war reif für eine Revolution von oben. Dort wo sie nicht zustande kommen konnte, wurde (von oben) eine Revolution von unten auf den Weg gebracht. Die Entscheidung über die Richtung der politischen Entwicklung aber traf in jedem Falle die Revolution von oben, und ich bestehe auf der Feststellung, dass im Herbst '89 ohne die Mitwirkung der verdeckten Kräfte Gorbatschows die Außerkraftsetzung des totalitären Staates und der nachfolgende Demokratisierungsprozess nicht zustande gekommen wären, von der Einheit Deutschlands ganz zu schweigen.«

»Heutzutage werden aber nur die Verdienste der Revolution von unten gewürdigt, und Gorbatschow wird lediglich für die Öffnungsbereitschaft im eigenen Land und seine vernünftige Haltung zur deutschen Einheit geehrt, nicht aber für seine operative Unterstützung.«

»Auch eine offene Gesellschaft kann eben längst nicht alles offenlegen, was offengelegt werden müsste, und ehe man sich in unliebsamen Widersprüchen verfängt, lässt man die friedlichen Revolutionäre ihren Alleinvertretungsanspruch pflegen. Wie eng der Horizont der protestierenden Massen, aber auch der so mancher Bürgerrechtler war, lässt sich an folgendem Sachverhalt zeigen. Dass die Demonstranten in Leipzig und Berlin (und sicherlich nicht nur dort) aus voller Kehle ›Gorbi, Gorbi‹ und ›Gorbi hilf‹ riefen, ist ein historischer Fakt. Dass die Macht Gorbatschows in der Sowjetunion sowie im übrigen Ostblock ganz wesentlich auf der Unterstützung durch das KGB fußte, darf ebenfalls als unstrittig gelten. Hingegen muss bezweifelt werden, dass sich die Mehrheit der Wende-Aktivisten in der DDR der letzteren Tatsache bewusst war. Als im Herbst '89 eine wütende Menge die Dresdener Stasi-Zentrale gestürmt hatte, wollte man, da man einmal beim ›Demokratisieren‹ war, gleich nebenan noch mit aufräumen; dort aber hatte das KGB seinen wohlbefestigten Sitz. Als die Revolutionäre zum Sturm auf das Gebäude bliesen, passierte folgendes: Ein eher kleiner, drahtiger Mann trat vor die Tür und sprach mit fester Stimme zu den aufgebrachten Menschen. Er erklärte ihnen (sinngemäß), dass das Haus mit gutausgebildeten, bewaffneten Kämpfern besetzt sei, die ihre Position bis zur letzten Patrone verteidigen würden. Was immer auch passierte, es würde Blut fließen, deshalb bäte er die Angreifer inständig, von ihrem Vorhaben abzulassen. Nach einigem Murren siegte die Vernunft, und die Menge zog sich friedlich zurück. Im Jahre 2001 stattete der russische Präsident, Wladimir Putin, der bis 1989 hochrangiger KGB-Offizier in Dresden gewesen war, der Bundesrepublik einen Besuch ab. Ein Demonstrant von damals erkannte ihn wieder und erzählte die Geschichte einem Reporter. – Was wird wohl ein Mann vom Schlage Putins, der die entscheidende Mission der Gruppe Luch mit Sicherheit gekannt und mitgetragen hat, damals gedacht haben? Vielleicht dies: ›Welcher Teufel reitet diese einfältigen Menschen, gerade jene Kraft zerstören zu wollen, die ihnen bislang den Rücken freigehalten hat?‹ Nein – derlei Wahrheit war einfach zuviel für die Aktivisten der friedlichen Revolution. Gorbatschow gehörte zu den ›Guten‹, und sie verehrten ihn wie einen Schutzpatron, den man in der Not auf Knien anruft. Dass aber dieser ›Gute‹ dereinst aus den ›Bösen‹ hervorgegangen war und nunmehr den Apparat der einstigen Bösen in einem letzten Gefecht befehligte, um so den ›Guten‹ zum Durchbruch zu verhelfen wer hätte sich da noch zurechtfinden sollen! Damit das Volk und in gewissem Sinne auch die Bürgerrechtler ihre Rolle laut Drehbuch spielen konnten, musste man ihnen die einfache Wahrheit von ›Gut‹ und ›Böse‹ erhalten.«

»Haben Sie schon damals ›Gut‹ und ›Böse‹ sauber auseinanderhalten können?«

»Sauber gewisslich nicht – wer war schon dazu in der Lage? Nur war mir die einfache Wahrheit von Anfang an suspekt, und ich habe immer geahnt, dass es dahinter eine tiefere geben musste. Und nach dieser habe ich mit ganzer Kraft gesucht.«

»Und wann sind Sie das erste Mal unmissverständlich drauf gestoßen?«

»So um 1990/91 herum. Damals hatten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten offensichtlich noch kein festgeschriebenes Bild der Wende. Man differenzierte noch nicht so streng wie in späteren Jahren, was man den Leuten zumuten sollte und was besser nicht. In dieser Zeit also sah ich zu vorgerückter Stunde im Fernsehen eine ausführliche Dokumentation über die Gruppe Luch. Es war atemberaubend: das KGB im Dienste der demokratischen Umgestaltung! Ein Geheimdienstler, jung und sympathisch, erzählte, dass quasi auf allen Ebenen der Gesellschaft daran gearbeitet worden war, Menschen für die Öffnung des Systems zu gewinnen, u. a. hätte es auch nützliche Kontakte zum Neuen Forum gegeben, der wohl wichtigsten oppositionellen Vereinigung in Wendetagen. Unmittelbar im Anschluss an dieses Gespräch ging der Reporter den Dingen auf den Grund und befragte Bärbel Bohley, die Mitbegründerin des Neuen Forums, ob sie von Luch gehört hätte, was sie dazu meine und ob Leute von dort bei ihr aufgetaucht wären. Sie war etwas erstaunt, konnte offensichtliche Kontakte natürlich nicht bestätigen, schloss aber eine unentdeckte Zusammenarbeit keineswegs aus. Es wären damals ständig neue Gesichter aufgetaucht und wieder verschwunden, da hätte man unmöglich jeden kennen können, aber wenn es dem demokratischen Anliegen nutzte, warum nicht. Hernach ist meines Wissens nie wieder über dieses heikle Thema berichtet worden. Es ging, wie schon gesagt, um die Pflege der einfachen Wahrheit. Der Erfolg der friedlichen Revolution sollte gepriesen und gefeiert, nicht aber relativiert werden – das kann man sogar irgendwo verstehen.«

 

IV

»Die Frage ist«, versuchte Adrian den Wendevorgang weiter zu verfolgen, »wie entwickelte sich aus der anrollenden Protestwelle schließlich die entscheidende Leipziger Demonstration vom 9. Oktober '89 – oder war das ein Zufall?«

»Das ist der Punkt. Für die verdeckt agierenden Initiatoren ging es letztlich darum, dass im Verlaufe der sich steigernden Protestaktionen ein klares, unmissverständliches Zeichen gesetzt wurde – ein Zeichen, das den Machtwechsel rechtfertigte. Der Machtwechsel selbst war im Grunde nicht das Problem – von Belang war der erweckte Anschein, dass er allein vom Volk erzwungen wurde. Die vor dem 9. Oktober spontan aufflackernden Demonstrationen konnten das nicht leisten. Sie waren allesamt zu schwach und meist mit einem rüden, überlegenen Vorgehen der Sicherheitsorgane verbunden. Für die eindeutige Zeichensetzung bedurfte es einer herausragenden Kraftprobe zwischen dem protestierenden Volk auf der einen und der repressiven Staatsmacht auf der anderen Seite. Wichtig dabei war, dass die letztere nicht wie gewohnt die Oberhand behielt, aber auch, dass das erstere nicht als überschäumender Sieger vom Platz ging. Es sollte der Eindruck entstehen, dass der Staat – wie im Schlage innehaltend – den Willen des Volkes zur Kenntnis nehmen musste, womit eine neue Qualität des gegenseitigen Verhältnisses erreicht worden wäre. Keine Frage – ein solches Ereignis brauchte eine zweckdienliche ›Choreografie‹ und musste sorgfältig geplant werden. Dabei räume ich ein, dass auch bei gründlicher Vorbereitung ein beträchtliches Restrisiko nicht ausgeschlossen werden konnte.«

»Gibt es einen Grund, warum das zeichenhafte Ereignis ausgerechnet in Leipzig stattfinden sollte?«

»Gewiss. Dort gab es bereits die Montagsdemonstrationen – man musste also die geplante Kraftprobe nicht neu inszenieren, sondern konnte eine bereits existierende Veranstaltung gezielt ausbauen und verstärken.«

»Weshalb war das Ihrer Meinung nach nötig, könnte sich die zeichensetzende Menge der Demonstranten nicht einfach so ergeben haben?«

»Eine solche Ansicht scheint mir reichlich naiv. Dass eine Verstärkung notwendig war, ergibt sich aus der Größe der vorangegangenen Demonstrationen. ... Warten Sie mal, ich habe mir das extra für Sie aufgeschrieben.« Brückner zog einen Zettel aus der Tasche. »Der Protestmarsch vom 25. September umfasste sechs- bis achttausend Teilnehmer, der vom 2. Oktober um die zehntausend, an der entscheidenden Veranstaltung vom 9. Oktober aber nahmen über siebzigtausend Menschen teil – manche Dokumentationen sprechen sogar von hunderttausend. Für diesen gewaltigen Sprung gibt es keine einleuchtende Erklärung. Sofern man die politische Entwicklung vom 2. bis zum 9. Oktober ins Auge fasst, war sicherlich mit einem weiteren Anwachsen der Teilnehmerzahl zu rechnen. Optimisten konnten möglicherweise von fünfzehntausend Teilnehmern ausgehen. Ich lasse mir auch dreißigtausend unterstellen – es kamen aber siebzigtausend, und die wären ohne gezielte Einflussnahme niemals zusammengekommen.«

»Sie meinen, es gab so etwas wie eine Sollziffer für die Teilnehmerzahl am
9. Oktober?«

»Schon möglich. Versetzen Sie sich in die Lage der sowjetischen Administration, die gegenüber dem Westen für einen kontrollierten Machtwechsel in der DDR verantwortlich war. Sie brauchte das besagte Zeichen, um dem Machtwechsel konspirativ auf die Sprünge helfen zu können, ohne dabei irgendwelchen Argwohn zu erregen. Fünfzehntausend Menschen wären noch längst nicht repräsentativ für den Willen eines ganzen Volkes gewesen, mit siebzigtausend aber war man auf der sicheren Seite. Das war ein Hammer, der einfach Folgen haben musste. Und so hat man – von der Öffentlichkeit unbemerkt – dafür gesorgt, dass es siebzigtausend wurden. Dazu kommt, dass der Erfolg des ganzen Unternehmens an eine zweite kooperierende Maßnahme gebunden war – den Stillhaltebefehl für das Militär –, und der wäre bei einer zu schwachen Demonstration voll ins Leere gelaufen.«

»Am darauffolgenden Montag sollen es dann hundertzwanzigtausend gewesen sein. Mussten die auch auf die gleiche Weise rekrutiert werden?«

»Das glaube ich kaum. Das Zeichen war – weithin leuchtend – gesetzt und um seine nachhaltige Wirkung auf potenzielle Demonstranten musste man sich nicht sorgen. Während am 9. Oktober die Leipziger Innenstadt von Militär und Sicherheitskräften besetzt war, deren martialisches Gebaren das Schlimmste befürchten ließ, war derlei abschreckende Systempräsenz am 16. Oktober nicht zu bemerken. Die Luft war sozusagen rein und die Anspannung der Menschen fast völlig verflogen. Natürlich waren die Siebzigtausend vom Vormontag wieder zur Stelle und dazu viele, die von der beispiellosen Kraftprobe gehört hatten und dazu beitragen wollten, dass dieser Erfolg schließlich Früchte trug. Von Woche zu Woche wachsend, glich die Menge schon bald einem ›aufgekratzten Fußballpublikum‹, das mit originellen Sprechchören und umwerfenden Transparenten den Volkswillen artikulierte, so dass der Eindruck eines Karnevalsumzuges mitunter nahelag. – Sieht man einmal von den Demos am 25.9. und 2.10. ab, die sich aus dem Ausreiseverlangen bestimmter Gruppen entwickelt hatten, indem die ›Dableiber‹ mit eigenen Forderungen Druck zu machen begannen, dann gab es nur eine von tiefem Ernst geprägte und von gemeinsamer Verantwortung getragene Demonstration – die vom 9. Oktober. Was danach kam, war ungebremst ins Kraut schießendes ›Frust- und Wunschgebaren‹, das nach dem Mauerfall einen unrühmlichen nationalistischen Auswuchs integrierte, von dem sich die Basisgruppen des Anfangs verächtlich fernhielten.«

»Könnte es sein, dass sich die soziale Zusammensetzung der Demonstrationen bis zum Jahresende geändert hatte? Ich habe einiges darüber gelesen.«

»Genauso war es. Während am 9. Oktober und in den ersten Wochen danach hauptsächlich Intellektuelle, Angestellte und Studenten, kurz: mehr idealistisch gesonnene Zeitgenossen, in Erscheinung traten, dominierte – besonders nach dem Fall der Mauer –, die ›Arbeiterklasse‹. Es war schon bemerkenswert, wie gerade die letztere, die ja in gewisser Weise vom System bevorzugt worden war, zur DM und zur Einheit drängte, während die ersteren beharrlich einem demokratischen Sozialismus das Wort redeten.«

»Und Sie? Sie waren doch mittendrin, während ich gerade geboren wurde.«"

»Ich war zu dieser Zeit ein aufmerksamer, aber nicht gerade glücklicher Mensch. Meine heimliche Sympathie galt natürlich den demokratischen Sozialisten, aber ich wusste, dass sie schlechte Karten hatten und schon bald von der Geschichte überrollt werden würden. Meine vorausschauende Kritik war damals nicht gefragt – die Leute wollten einfach ihren Traum ausleben. Es war die Zeit der großen, sich überschlagenden Gefühle.«

»Um auf die Bedeutung des 9. Oktober zurückzukommen, Sie sind also der Meinung, dass sich die Teilnehmer des Protestzuges in besonderer Weise ihrer Verantwortung für die weitere Entwicklung bewusst waren?«

»Durchaus. An diesem Tage verband die Demonstranten ein erhebendes Gemeinschaftsgefühl. Ausnahmslos schienen sie jedwede Aggressivität zu vermeiden, und man konnte den Eindruck gewinnen, dass zuvor daran gearbeitet worden war.«

Adrian mühte sich redlich, Brückners Ausführungen zu verarbeiten, obschon er mit dem Zweifel rang.
»Das alles finde ich sehr interessant, nur will mir noch immer nicht in den Kopf, dass die Demonstration durch ›konspiratives Engagement‹ verstärkt werden musste. Besonders die Aktivisten von damals werden Sie mit dieser These kaum überzeugen.«

»Das will ich auch gar nicht, denn die meisten dieser wackeren Leute haben sich mit ihrem Anspruch auf den ungeteilten Erfolg ohnehin den Zugang zu jeder tiefergreifenden Erkenntnis verbaut. Bei Ihnen aber scheint mir dieser Zugang durchaus möglich, besonders, wenn ich Ihnen das Zweifeln noch ein bisschen erschwere. – Ich behaupte doch mitnichten, dass jeder Zweite von einem KGB-Mann zur Teilnahme an der Demonstration überredet worden ist, das wäre nun in der Tat daneben. Das beste Beispiel bin ich selbst. Leipzig war damals mein Wohnort. In vollem Bewusstsein der entstandenen Lage habe ich am 9. Oktober zum ersten Mal mitdemonstriert, weniger aus patriotischen Erwägungen, vielmehr aus einer schwer zu beschreibenden Neugier, der ich mich nicht entziehen konnte. Seit Tagen wussten alle unter vorgehaltener Hand, dass demnächst eine Entscheidung fallen würde; die Anspannung lag förmlich in der Luft. Wenn es denn wirklich so schlimm stand, woran ich nicht recht glauben mochte, dann wollte ich mir nicht vom Westfernsehen erklären lassen, wie das angeschlagene System sein letztes Stündlein verbrachte. Im Übrigen: Mein drängendes Gefühl hat mich nicht betrogen, denn der Abend wurde ein einmaliges, unvergessliches Erlebnis. Ähnlich mag es anderen auch ergangen sein. Jedenfalls wäre ich eine Woche zuvor nicht annähernd auf den Gedanken gekommen, mich an einer Demonstration zu beteiligen, die ursprünglich von Ausreisewilligen ins Leben gerufen worden war – von Leuten, mit denen ich nichts am Hut hatte. Im Grunde triumphierte das bewährte Konzept: Gerüchte drehen das Rad der Geschichte. Und wen kümmerte schon die ›Küche‹ in der sie ›gebraut‹ wurden. In dieser bergeversetzenden Zeit wurde erstaunlich wenig gezweifelt, wenn nur die ungedeckte Nachricht mit den eigenen Sehnsüchten harmonierte. Nein wer darauf besteht, dass die Leute allein aus der Ablehnung des totalitären Systems endlich die Konsequenzen gezogen hatten, der muss sich zumindest fragen lassen, warum gerade am 9. Oktober und warum siebzigtausendmal?«

»Ich fürchte, es fehlt nicht mehr viel, und Sie haben mich mit dem Rücken zur Wand.«

»Nicht zu früh aufgeben«, spottete Brückner, »die schwere Keule kommt erst noch, wenn wir den Mauerfall auseinandernehmen. Aber vielleicht lassen sich Ihre restlichen Bedenken zerstreuen, indem wir zum wiederholten Male einen Blick ins Nachbarland werfen, in die damalige Tschechoslowakei. Es war ja durchaus kein Zufall, dass dort die Demonstrationen erst Mitte November begannen, zu einem Zeitpunkt, als das widerständige Geschehen in der DDR längst seinen Höhepunkt erreicht hatte. Das Feuer, das in der DDR durch die Fluchtwelle angefacht worden war, hatte nunmehr auf tschechisches Gebiet übergegriffen, und man musste Sorge dafür tragen, dass es ausreichend Nahrung fand. Am
17. November '89 kam es in Prag zu einer gewaltigen Studentendemonstration, die von der Polizei brutal unterdrückt wurde, wobei ein Student ums Leben kam. Das brachte die Volksseele zum Kochen, so dass die Außerkraftsetzung der Diktatur stehenden Fußes in Angriff genommen werden konnte. Schon kurze Zeit später stand außer Zweifel, dass der angeblich Ums-Leben-Gekommene sich unbeschadet seines Lebens freute. Zwei Tage lang hatte man die Todesnachricht – von den Medien eifrig repetiert – in der Gesellschaft wirken lassen, dann war der Student aufgefordert worden, seinen vermeintlichen Tod öffentlich zu dementieren. Bis heute ist unklar, wie die Schreckensmeldung in die internationalen Agenturen lanciert werden konnte. Fakt ist hingegen, dass sie schließlich in den Top-News von Radio Freies Europa gelandet war. Von dort hatte der Vater des Totgesagten die erschütternde Nachricht erhalten, nachdem ihn die Polizei darauf hingewiesen hatte. Keiner von denen, die's erlebt haben, wird bestreiten, dass eben diese Nachricht die Rolle eines Initialzünders übernommen und das ganze Land in Aufruhr versetzt hatte. Wenige Wochen später war das System am Ende. – Das alles ist die lautere Wahrheit; lesen Sie's nach im Archiv von Radio Prag. Aus dem Student ist mittlerweile ein Doktor der Mathematik geworden, der über die Umstände seines inszenierten Ablebens im Einzelnen Auskunft gibt.«

 

V

Nachdem Adrian diesen Brocken verdaut hatte, hakte er kopfschüttelnd nach.
»Wenn all diese Dinge hieb- und stichfest belegt werden können, warum sträubt sich dann die offizielle Geschichtsschreibung gegen eine angemessene Verwertung?«

»Verschwörungsszenarien – und an solchen käme man dann kaum vorbei – sind eben bei Journalisten und Historikern nicht sonderlich beliebt. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Verschwörung als solche, sondern vielmehr um das demokratische System, das sich ihrer wider alle selbst erlassenen Regeln bedient. Die Befreiung des kommunistischen Ostblocks unter Einbeziehung effektiver Verschwörungsszenarien – wie sollte die öffentliche Meinung das verkraften? Also schützt sich das politische System, indem es Enthüllungen seiner wenig edlen Machenschaften ahndet. Während Ketzer zu kommunistischen Zeiten schnell ins Gefängnis wanderten, kostet es dieselben in der freien Welt lediglich die renommierte Karriere. Alle heißen Eisen der Geschichte stehen in der Regel erst fünfzig oder hundert Jahre später der Forschung ohne Zwänge zur Verfügung – genau dann, wenn die ›sensiblen Objekte‹ mit der zutage geförderten Wahrheit nicht mehr konfrontiert werden können. Solange wollen wir beide aber nicht warten. Im Übrigen: Wer als Historiker die begründete Existenz von Verschwörungsszenarien belächelt, der hätte lieber Architekt oder Zahnarzt werden sollen – die Geschichte ist übervoll davon, das Altertum nicht weniger als die Moderne.«

»Ich glaube, da reicht bereits meine Schulbildung, um Ihnen zustimmen zu können.«

Nach einer kleinen Pause fuhr Brückner fort.
»Und dann ist da noch der Aufruf der sechs Leipziger Persönlichkeiten, die – bei näherem Hinschauen – mit der Strategie der steuernden Initiatoren eng verwoben waren.«

»Und warum scheint Ihnen eine solche Unterstellung wichtig?«

»Das liegt doch auf der Hand. Wer die wende-erzwingende Zeichensetzung wollte, der musste sich um beides kümmern: um die Gewaltlosigkeit der Demonstranten ebenso wie um das Stillhalten des Militärs. Und in diesem Sinne handelten die Sechs in wohlkoordinierter Arbeitsteilung. Verantwortlich für den Aufruf zeichneten der Gewandhauskapellmeister, der auf Grund seiner Popularität als Wortführer fungierte, ein Theologe und ein Kabarettist sowie – und das war das eigentlich bemerkenswerte – drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung. Die Genannten forderten freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus und versprachen, sich für einen Dialog mit der Regierung einzusetzen. Am Schluss stand die dringende Bitte um Besonnenheit, damit dieses Vorhaben ermöglicht werden konnte. Solche Worte aus dem Munde der Partei – die letztere gab dem Ganzen ja das nötige Gewicht –, das war schon erstaunlich. Damit meine ich, dass die ungenehmigte Demonstration an sich nicht verurteilt, sondern als ›besonnene Veranstaltung‹ respektiert wurde. Als ich den Aufruf damals hörte, war mein erster Gedanke: Wieso konnten diese drei SED-Bezirkssekretäre sich in der Öffentlichkeit so weit vorwagen, ohne gebremst zu werden? Die Demonstration begann gegen 18 Uhr. Der Aufruf war zuvor in den Kirchen der Innenstadt kundgetan und während des Aufmarsches über den Stadtfunk verlesen worden. Fünf Minuten später müssen es die Vorgesetzten in Berlin gewusst haben (sofern sie es nicht längst schon wussten), und sie hätten sofort handeln können. ›Gorbatschow oder nicht Gorbatschow‹, das war hier die Frage, und der Graben ging mitten durchs Politbüro. Auf der einen Seite die Altkommunisten um Honecker, Mielke und Mittag, auf der anderen Seite Krenz und Schabowski, um nur einige zu nennen. Der wichtigste Perestroika-Mann aber war der ehemalige Geheimdienstchef Markus Wolf.«

»Und der hatte wahrscheinlich noch immer die besten Verbindungen.«

»Davon bin ich überzeugt. Mein zweiter Gedanke beim Hören des Aufrufs war: Wenn diejenigen, die an höchster Stelle für Sicherheit und Fortbestand des sozialistischen Staates verantwortlich waren, den Aufruf tolerierten, dann musste dort stillschweigend ein Machtwechsel stattgefunden haben, derart, dass Krenz den Stab de facto bereits übernommen hatte, auch wenn der Sturz Honeckers de jure noch ausstand. Und in dieser Situation tat der neue Mann in voller Absicht – nichts, während die drei Bezirkssekretäre auf der örtlichen Ebene dafür sorgten, dass auch wirklich nichts gegen die Demonstranten unternommen wurde. Das ist und bleibt ihr unbestrittenes Verdienst. Dass allesamt bei ihrem ›aktiven Nichts-Tun‹ die schützende Hand Gorbatschows im Rücken fühlten – und dies keineswegs nur moralisch – liegt mehr als nahe.«

»In der einschlägigen Literatur wird aber immer wieder behauptet, das Militär sei durch die unerwartete Masse der Demonstranten, besonders durch deren absolute Disziplin und Gewaltlosigkeit, so beeindruckt worden, dass sich die Befehlshaber zum Einlenken gezwungen gesehen hätten.«

»Eine ziemlich einfältige Erklärung von Leuten, die militärische Zusammenhänge aus eigenem Erleben nicht kennen. Es gab im militärischen Bereich weder humanitäre Vernunft noch Gefühle, und wenn doch, mussten sie teuer bezahlt werden. Maßgebend allein war der Befehl. Und ›kein Befehl‹ ist eben auch ein Befehl, der unter allen Umständen befolgt werden musste. Wehe dem, der diese Spielregel missachtete. Das Märchen vom menschlich reagierenden Militär wird aber ganz bewusst genährt, um die Demonstration gehörig zu glorifizieren. Im Übrigen: Wer den Dingen auf den Grund will, hat einzig und allein zu klären, wer damals sowohl den politischen Vorsatz als auch die ›durchgreifende Verfügungsgewalt‹ besaß, den Stillhaltebefehl zu erteilen, einen Befehl, mit welchem der Fortbestand des Systems auf Gedeih und Verderb verbunden war. Und nun können Sie die politischen Kräfte der Reihe nach durchgehen: Die Altkader um Honecker verfügten im entscheidenden Moment nicht mehr über die Macht und über den Vorsatz schon gar nicht; auch die örtlichen, Honecker-treuen Sicherheitsorgane besaßen weder das eine noch das andere; allein die Perestroika-Sympathisanten in SED und Stasi hatten – gestärkt durch den langen Arm des KGB sowohl den Vorsatz als auch die Macht. Es bedarf nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie diese Kräfte dem veränderungsunwilligen System in die Speichen gegriffen und dafür gesorgt haben, dass das unglaubliche Ereignis in Szene gesetzt werden konnte.«

»Dann war Ihrer Meinung nach die ganze Aufregung umsonst und die Demonstration eine einzige große Inszenierung?«

»Keineswegs, wenn Sie bedenken, dass die Demonstranten nicht annähernd das gewusst haben, was man heute wissen kann und was die Drahtzieher seinerzeit wussten. Die bedrückende Unsicherheit, das Überwinden der Angst und das couragierte Ringen um den gewaltlosen Erfolg waren in jedem Falle echt – ich würde mein eigenes Erleben Lügen strafen, wenn ich die Augenzeugenberichte von damals schmälerte oder gar bestritte. Alle, die an diesem Kräftemessen beteiligt waren, haben auf ihre Weise zum glücklichen Ausgang des Geschehens beigetragen. Das gilt auch für die befehlsabhängigen Sicherheitskräfte.«

»Auch am historischen Verdienst der sechs Persönlichkeiten machen Sie keine Abstriche?«

»Nicht im Geringsten. Die Verantwortung, die sie übernommen hatten, war enorm, ihr Engagement nicht hoch genug zu schätzen. Leider haben sie kaum zur Erhellung der schwer durchschaubaren Zusammenhänge, die den 9. Oktober umgaben, beigetragen, aber das war wohl nicht anders zu erwarten. Wichtig ist, dass sie als bekannte, einflussreiche Persönlichkeiten, die sich dem Geiste Gorbatschows verbunden fühlten, ihr Gewicht in die historische Waagschale warfen.«

»Die Ableitung des Stillhaltebefehls aus Ihrer weitläufigen Theorie – das leuchtet ein. Aber ... lässt sich ein solcher auch durch die Beobachtung der konkreten Ereignisse stützen?«

»Durchaus. Sie hatten es bereits angesprochen. Immer wieder wird behauptet, das Militär hätte angesichts der riesigen, friedlich demonstrierenden Masse nicht gewagt zu reagieren. Aber – warum hat sich das System an jenem Abend gänzlich und unwiderruflich aufgegeben? Die Alternative für die Staatsmacht hieß doch keineswegs nur: Blutbad oder absolute Zurückhaltung. Allein der legendenbildende Rückblick hat diese extreme Alternative immer wieder angezogen. Bereits das gezielte Abdrängen der Demonstranten mittels Wasserwerfern, Hundestaffeln und Sperrketten hätte die Entfaltung des Protestmarsches empfindlich gestört. Auch ein abgebrochener Unterdrückungsversuch (nach Eintreten einer Situation, die ohne Schusswaffengebrauch nicht mehr beherrscht werden konnte) hätte den durchschlagenden, endgültigen Erfolg der Demonstration zunichte gemacht. Warum wurde nicht die leiseste Anstrengung unternommen, den Staat vor dem Untergang zu retten? Das Militär hatte an keiner Stelle auch nur gezuckt und war nach seinem martialischen Erscheinen am Nachmittag während der abendlichen Demonstration in keiner Weise spürbar gewesen. Die Antwort ist einfach: Die überzeugende Zeichensetzung wäre ansonsten nicht zustande gekommen. – Es passt einfach nicht zum historischen Charakter des Systems, dass die Diktatur, die noch zwei Tage zuvor in Berlin und Leipzig hart zugeschlagen hatte, nach einem plötzlichen Sinneswandel abtritt, ohne einen letzten Versuch der Machterhaltung unternommen zu haben.«

»Alles in allem: Sie teilen die weit verbreitete Ansicht nicht, die den Ausgang der Demonstration als eine Art Wunder bezeichnet.«

»Das ist korrekt. Natürlich war auch hier das Glück des Tüchtigen mit im Spiele, von Gottes Ratschluss ganz zu schweigen. Aber wer die Geschichte gründlich studiert, für den gibt's keinen Zweifel: Die Riesenmenge ›vernünftiger‹ Demonstranten, dazu der Stillhaltebefehl für das Militär und schließlich der den Verlauf der Kraftprobe wesentlich bestimmende Aufruf – diese Troika war nie und nimmer ein Zufall oder gar ein Wunder. Es war eine sinnvolle, wohldurchdachte Konstruktion, deren abgestimmte, ineinandergreifende Komponenten an ein und demselben Reißbrett entstanden waren.«

»Eigentlich schade«, bemerkte Adrian mit gespielter Enttäuschung, »die Leute fliegen immer so gerne auf ein Wunder.«

 

VI

Bis dahin hatten die Männer am Ufer des Schwarzen Sees gesessen. Ungestört und fast ohne Pause waren sie den Spuren der Wende gefolgt. Jetzt schien eine gewisse Zäsur erreicht, und mit dem wohltuenden Gefühl, etwas Sinnvolles geleistet zu haben, reckten sie ihre Glieder auf dem moosbewachsenen Waldboden. Adrian war klar: Wenn dieser alte Mann irgendwann nicht mehr da sein würde, dann war er so ziemlich der einzige, der von seinen außergewöhnlichen Erfahrungen und Erkenntnissen wusste. Sicher, das Wichtigste hatte der Meister aufgeschrieben, aber im persönlichen Gespräch waren ihm immer wieder Dinge zu entlocken, die sich dem Maßstab des Chronisten geflissentlich entzogen. Dabei sprudelte er wie eine Quelle, alles kam so leicht, und man musste ihn nicht lange bitten. Nur manchmal wirkten seine erstaunlichen Induktionen wie ein Vermächtnis – ein Eindruck, der Adrians Stimmung leise trübte.

Doch an einem Tag wie diesem war kein Platz für melancholische Gedanken. Brückner schien vitaler denn je und zerstreute alle Sorgen. Schließlich schlug er vor, das Gespräch beim Laufen fortzusetzen; lang genug schon hätten sie auf der faulen Haut gelegen. Und so brachen sie denn auf zum Jagdschloss Granitz. Meist wandelten sie auf einsamen Pfaden, fernab der Routen umtriebiger Touristen.

»Mal sehen, ob wir heute noch das Schloss erreichen«, bemerkte Brückner mit schelmischer Miene, »bei unserem gemächlichen Plauderschritt bin ich mir da nicht so sicher.«

Nachdem sie ein Weilchen gegangen waren, versuchte Brückner, an die betrachteten Ereignisse anzuknüpfen.
»Ja, nun war das Zeichen für den Machtwechsel gesetzt. Das Volk hatte nachdrücklich seinen Willen bekundet, und der erwünschte Handlungsbedarf hatte sich eingestellt. Am 18. Oktober erfolgte höchst offiziell die Absetzung Honeckers, und das Amt des Generalsekretärs ging über auf Egon Krenz. Das wichtigste aber war: Bereits am Tage nach der Leipziger Demonstration hatte das System seinen gefürchteten Biss verloren. Es war zwar noch da, geriet aber zunehmend in die Defensive. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass Partei und Regierung sich auf eine abwartende Position zurückgezogen hatten, während das opponierende Volk sich den Frust von der Seele redete und Pläne schmiedete. Dabei wurde die Richtung der politischen Willensbildung von den ›unsichtbaren Wendemachern‹ aufmerksam beobachtet.«

»Was war denn das für eine Gesellschaftsordnung, die den friedlichen Revolutionären damals vorschwebte?«

»Ein schwieriges Kapitel. Den Sozialismus irgendwie erhalten – natürlich ohne die Krake der Diktatur –, das wollten damals wohl die meisten. Fast niemand befürwortete im Rahmen der Demokratisierung den Übergang zum Kapitalismus, und die wenigen, die das schon vor dem Mauerfall im Kopf hatten, wagten nicht, es öffentlich auszusprechen. Was hatte auch die so dringend notwendige Öffnung des Systems mit dem Kapitalismus zu tun? Ein Ketzer, wer da einen gesetzmäßigen Zusammenhang vermutete. Die bei weitem überwiegende Mehrheit schwebte monatelang im Wolkenkuckucksheim eines weltfremden Wunschdenkens.«

»War die Umgestaltung, die Egon Krenz im Auge hatte, der der sowjetischen Perestroika gleichzusetzen?«

»Krenz unterschied sich mit Sicherheit von Honecker und war sich über die Notwendigkeit von Reformen im klaren. Er wollte aber das System nicht zu weit öffnen; ein sicherer Instinkt schien ihm zu sagen, dass dann der Sozialismus auf Nimmerwiedersehen verschwände, womit er selbstverständlich recht hatte. Er repräsentierte sozusagen den konservativen Flügel der Perestroika-Anhänger, und sein zögerliches Auftreten in Sachen Demokratisierung war ein Dorn im Auge derer, die auf Straßen und Plätzen mit dem alten System zu brechen suchten. Den radikalen Flügel aber bildeten weite Kreise der Intellektuellen, allen voran die Bürgerrechtler im produktiven Streit mit den ›geläuterten Genossen‹. Die naive Vorstellung dieses Flügels gipfelte – das mehrheitliche Bewusstsein des Herbstes fokussierend – in dem Wunsch, die Demokratie des Westens mit der sozialen Sicherheit des Ostens zu verbinden.«

»Also in einem demokratischen Sozialismus.«

»Ganz recht. Und der bedeutete, wie heute eigentlich jedem klar sein sollte, die blanke Utopie. Denn ...«

Adrian nahm Brückner förmlich das Wort aus dem Mund:
»In einer Gesellschaft egoistisch motivierter Individuen gibt es nur zwei stabile Zustände: den real existierenden Sozialismus und den demokratischen Kapitalismus.«

Brückner holte tief Luft.
»Mein Gott. Warum muss dieses seltene Talent beim Informatik-Studium vergeudet werden? – Aber Spaß beiseite, ich sehe, dass Sie sich mit meinen Theorien befasst haben. – Aus den besagten Verhältnissen ergab sich nun fast zwangsläufig der folgende Sachverhalt. Trotz handfester Meinungsunterschiede stimmte das gesamte Spektrum der öffnungsbeflissenen Kräfte – ausgenommen das KGB – in einem Punkte überein: Die Vereinigung Deutschlands stand nicht auf der Tagesordnung. Brennend war allein die Frage, inwieweit die sich öffnende Gesellschaft sozialistische Elemente zu bewahren vermochte und ob am Ende etwas Besseres als der herkömmliche Kapitalismus dabei übrig blieb. Dieses unglaublich spannende Problem ließ die Menschen dazumal nicht schlafen – eine Entscheidung für die Einheit hätte das Bemühen um die möglich scheinende Lösung glattweg erstickt.«

»Galt das auch für die demonstrierenden Volksmassen?«

»Im Prinzip schon; das will heute bloß keiner mehr wahrhaben. In jenen Wochen vom 9. Oktober bis zum 9. November lebten die Menschen in einem quasi ›systemfreien Raum‹. Das alte System hatte seinen Zugriff bereits gelöst, und das neue – wie immer es auch aussehen mochte – war noch nicht etabliert. Die Entwicklung schien nach vorne offen, und die Leute waren erfüllt von einem einzigartigen, nie gekannten Lebensgefühl. Selbst die alles überschattende Stasi-Problematik konnte diesen Eindruck nur unwesentlich trüben.«

»Eine solche Gesellschaft machte die Fahrt in den Einheitshafen natürlich zu einem höchst riskanten Unternehmen. Bei den ersten freien Wahlen hätten die vereinigungsablehnenden Kräfte die Oberhand gewonnen, so dass der Traum vom schnellen Anschluss zerplatzt wäre. Oder sehe ich das falsch?«

»Genau das war der Punkt. Man konnte die Entwicklung nicht dem Zufall überlassen, und das musste man auch nicht. Laut Drehbuch sollte diese heikle Situation mit einem genialen, schwer durchschaubaren Kunstgriff gemeistert werden.«

»Dem Fall der Berliner Mauer.«

»So ist es. Über seine Bedeutung im Rahmen des Einheitskalküls hatten wir ja bereits gestern gesprochen.«

 

VII

»Die Frage ist nun«, setzte Adrian nach, »wie der zündende Impuls für den Mauerfall, von dem Sie gestern sprachen, in der Praxis erzeugt werden konnte.«

»Um das herauszufinden, müssen wir uns Folgendes vor Augen führen. Anfang November '89 konnten die ›Einheitsmacher‹ mit der Erzeugung dieses Impulses nicht mehr allzu lange warten‚ denn die der Diktatur enthobene Menge drohte an einem reformierten Sozialismus sowie der Eigenständigkeit des Staates DDR festzuhalten. Der in diese Richtung zielende Einfluss der Bürgerbewegung wuchs zusehends, und die erste freie Wahl würde sich nicht unbegrenzt hinausschieben lassen. Bis dahin aber musste der rigorose Meinungsumschwung zu Gunsten der Einheit vollzogen sein. Am besten, man ließ das freiheitsliebende Volk die Sache in die eigenen Hände nehmen und vollendete Tatsachen schaffen. Dabei war eine ähnliche Doppelstrategie gefragt wie bei der Leipziger Demonstration: Man musste einerseits eine gewaltige Volksmenge gegen die Mauer drücken lassen und andererseits dafür sorgen, dass die Wächter sich nicht wehrten und – dem unbändigen Volkswillen nachgebend – die Tore öffneten. Das würde ein Spektakel geben, das die Nation erschütterte, und der Countdown für einen schnellen Anschluss hätte unbemerkt begonnen.«

»Da hätte ich aber einiges einzuwenden.«

»Na dann schießen Sie mal los.«

»Am 10. November 0 Uhr sollte das neue Reisegesetz in Kraft treten. Günter Schabowski – damals der wichtigste Mann neben Egon Krenz – hatte auf der Pressekonferenz irrtümlicherweise den Zeitpunkt ein paar Stunden vorverlegt, indem er ›sofort‹ und ›unverzüglich‹ sagte. Warum sollten da am Abend nicht ein paar Tausend Menschen an die Grenzübergänge gelaufen sein, um nachzuschauen, wie die Dinge wirklich standen?«

»Aber das Nachschauen von ein paar Tausend Leuten ist doch nicht der Punkt. Entscheidend für das wirkliche Verständnis des Mauerfalls ist, wie sich im Anschluss an die Schabowski-Meldung innerhalb weniger Stunden eine zig-tausendfache Menschenmenge bilden konnte, die so energisch gegen die Grenzübergänge drückte, dass diese bis Mitternacht sämtlich geöffnet werden mussten. Ein Tatbestand, der allein aus dem Inkrafttreten des Reisegesetzes zuzüglich Schabowskis zeitlichem Irrtum nie und nimmer abgeleitet werden kann.«

»Wie können Sie das so hartnäckig behaupten? Die Menschen waren ausgesprochen neugierig und auf Reisen in den Westen erpicht. Da wird's wohl einer dem andern gesagt haben, so dass sich die Nachricht schließlich wie ein Lauffeuer verbreitet hat. Außerdem wurde ja auch im Fernsehen darüber berichtet.«

»Na, nun mal schön der Reihe nach. Das wimmelt ja nur so von oberflächlichen Behauptungen und Kurzschlüssen. Sie sagen, die Menschen waren in hohem Maße an der Eröffnung von Reisemöglichkeiten interessiert. Das ist vollkommen richtig. Doch dürften diejenigen, die für immer weg wollten, wohl kaum an die Mauer gelaufen sein, in der Absicht, ihre so gut wie genehmigte Ausreise dort vorzeitig zu erzwingen. Und die Dableiber, die nur mal kurz nach drüben und wieder zurück wollten – und das betraf nachweislich fast alle Grenzgänger dieser Nacht –, die befanden sich keineswegs in einer Stimmung, die erkennen ließ, dass sie die Mauer attackieren oder gar einrennen wollten. Sicher, die Losungen auf den Demos hiesen ›Visafrei bis Shanghai!‹ und ›Die Mauer muss weg!‹, aber dahinter verbarg sich nichts anderes als die selbstverständliche Forderung nach Freizügigkeit. Nirgendwo im gesellschaftlichen Leben dieser Tage war zu erkennen, dass der Volkswille der Erfüllung dieser Forderung gewaltsam nachzuhelfen gedachte.«

»Woher wollen Sie wissen, was die Leute dachten?«

»Wenige Tage vor dem Mauerfall, am 4. November, fand auf dem Alexanderplatz in Berlin eine Großdemonstration statt, an der über eine halbe Million Menschen teilnahm. Die Reise- und Grenzproblematik spielte dort kaum eine Rolle, ganz andere Dinge dominierten das politische Meinungsspektrum. Jedenfalls deutete nichts darauf hin, dass die Leute im Sinn hatten, dem angekündigten Reisegesetz mit einem ungeduldigen Mauerdurchbruch zuvorzukommen.«

»Das glaube ich schon. Aber kann es nicht sein, dass Schabowski durch seine Ankündigung auf der Pressekonferenz die Menschen angestachelt hatte, den deutlich erleichterten Grenzübertritt schnell mal auszuprobieren.«

»Entschuldigen Sie, mein Bester, das ist nun völliger Unsinn. Die Frage ist, was er wirklich angestachelt hatte. Er hatte doch nicht gesagt: ›Heute Nacht geht die Grenze auf, und jeder kann ohne die geringsten Vorleistungen einfach in den Westen spazieren.‹ Eine solche in der Tat vom Hocker reißende Botschaft hatten sich andere Quellen vorbehalten, wir kommen noch darauf zurück. Schabowskis Kernaussage aber lautete: Privatreisen können ohne die bislang üblichen Bedingungen beantragt werden, und die Genehmigungen dafür werden kurzfristig erteilt – nicht mehr und nicht weniger. Jeder gelernte DDR-Bürger konnte somit wissen: Es ging um Anträge und Genehmigungen, und die würden frühestens am nächsten Morgen auf den entsprechenden Volkspolizei-Meldestellen bearbeitet und erteilt werden. Wer die Szene kannte, der wusste, am Morgen des 10. November war mit einem Riesenandrang auf den Meldestellen und kurze Zeit später mit gewaltigen Schlangen an den Grenzübergängen zu rechnen. Dass Schabowski irrtümlich den Start des Reisegesetzes vorverlegte, indem er ›sofort‹ und ›unverzüglich‹ sagte, war im Grunde unerheblich, da jedem klar sein musste, dass die Meldestellen am späten Abend und in der Nacht nicht geöffnet hatten. Ich sage es noch einmal: Allein mit der Schabowski-Meldung im Kopf wären die gelernten DDR-Bürger niemals in Massen zur Grenze geströmt, selbst wenn diese Nachricht wie ein Lauffeuer die Runde gemacht hätte. – Es waren andere Informationen, die die Schabowski-Meldung in raffinierter Weise überspitzten, so dass der zündende Impuls die Menschen in Scharen an die Grenzübergänge lockte.«

»Ich habe niemals von solchen überspitzten Informationen gehört.«

»O doch, Sie haben sie bestimmt nur überlesen. Die Berichte sind so gründlich und ihre Verfasser so arglos, dass alle für die Stützung meiner Theorie erforderlichen Details dort aufgelistet sind.«

»Nun spannen Sie mich doch nicht länger auf die Folter.«

»Nicht so stürmisch, mein Lieber. Ich habe mir das extra für Sie aufgeschrieben." Brückner schaute auf seinen Zettel. "Also: Kurz nach Schabowskis Bekanntgabe, so gegen 19 Uhr, dürfte sich wohl, von ein paar Übereifrigen abgesehen, niemand an den Grenzübergängen aufgehalten haben, es sei denn, er verfügte über die notwendigen Papiere. Gegen 20.15 Uhr sah die Sache schon anders aus, denn inzwischen war die Tagesschau der ARD über den Bildschirm geflimmert und hatte die Reiseregelung als Topmeldung an erster Stelle gebracht, dazu die eingeblendete Schlagzeile ›DDR öffnet Grenze.‹.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Sie können das jederzeit nachprüfen. Dabei stützten sich die Redakteure der Tagesschau auf Meldungen, die kurz zuvor über den Ticker gelaufen waren. So hatte etwa DPA gemeldet: ›Sensation: DDR öffnet Grenzen zur Bundesrepublik und West-Berlin.‹ Den anschließenden Filmbericht der Tagesschau über die Pressekonferenz krönte der Reporter mit dem Kommentar: ›Also auch die Mauer soll über Nacht durchlässig werden.‹ Beurteilen Sie selbst den vorauseilenden, lockenden Informationsgehalt der ARD-Meldung – um 20.00 Uhr waren nachweislich sämtliche Grenzübergänge geschlossen. Kurz nach der ›Tagesschau‹ waren etwa achtzig Menschen, verteilt auf verschiedene Grenzübergänge, zur Stelle – und es wurden ständig mehr. Erst jetzt hatte das eingesetzt, was Sie vorhin als Mund-zu-Mund-Propaganda oder Lauffeuer bezeichnet hatten. Einer sagte es dem andern, und mit der Unschärfe der Übermittlung wuchs die magische Anziehungskraft der Nachricht. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass diejenigen, die mit ihren präparierten Nachrichten das Lauffeuer entzündet hatten, auch dazu beizutragen vermochten, dass es sich rasch und raumgreifend ausbreitete – denken Sie an Luch und dessen ungeahnte Möglichkeiten. Jedenfalls war die Wirkung phänomenal. Zwei Stunden später war die Menschenmenge an den Grenzübergängen auf mehrere Tausend angewachsen, die im Bewusstsein ihrer gemeinsamen Stärke bedrohlich gegen die Tore drückten und einforderten, was ihnen die unglaublichen Nachrichten suggeriert hatten. Etwa 22.30 Uhr musste der Übergang Bornholmer Straße als erster geöffnet, das heißt bedingungslos freigegeben werden. Und jetzt beachten Sie wieder den vorauseilenden, lockenden Informationsgehalt der ARD-Tagesthemen, die Minuten später über den Bildschirm liefen. Dort wurde verkündet, dass die Grenzen ab sofort und für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stünden weit offen. – Letzteres war die wörtliche Formulierung. Ein solcher Sachverhalt war aber zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht gegeben. Und damit begann das ganze Spiel von neuem, nur viel vehementer und umfassender. Bis zu zwanzigtausend Menschen wurden an der Bornholmer Straße gesichtet, die im ›kollektiven Rausch‹ gegen die Mauer drückten und – ohne Pass und Visum Durchlass erheischten. Kurz nach Mitternacht waren dann nachweislich alle Grenzübergänge zwischen den beiden Stadtteilen Berlins geöffnet.«

 

VIII

»Eine umwerfende Geschichte«, zeigte sich Adrian beeindruckt.

»Wer die Mentalität der eingesperrten DDR-Bürger wirklich kannte, der wird begreifen, dass sie angesichts einer solchen Nachricht buchstäblich aufspringen mussten, um mit eigenen Augen zu prüfen, was an der Sache dran war.«

»Wahrscheinlich ist das nur für den zu begreifen, der Jahrzehnte in der DDR gelebt hat.«

»Da mögen Sie recht haben. – Entscheidend ist, dass die Drahtzieher im Hintergrund ein solches Verhalten vorhergesehen haben. Im Grunde erscheint das Ganze simpel, wenn man weiß, wie leicht es ist, einen ›spontanen Auflauf‹ zu provozieren. Man muss den Leuten nur das Gefühl vermitteln, etwas Wichtiges zu verpassen, und schon laufen sie los – so gut wie zu jeder Veranstaltung, gleichviel, ob es sich um Unglücke, Skurrilitäten, Attraktionen oder Sonderangebote handelt. Und ein Sonderangebot der Extraklasse stellten die überspitzten Nachrichten allemal in Aussicht. Im Übrigen: Hätte es das Reisegesetz nicht gegeben, dessen Inkrafttreten man ›vorauseilend aufblasen‹ konnte – man hätte es erfunden. Die Falschmeldung aber würde noch hundert Jahre später als nützliches Kuriosum bestaunt, ohne dass ihre Urheber in Misskredit gerieten.«

»Unmöglich, dass ein normaler Mensch solch komplizierte Zusammenhänge durchschaut«, bemerkte Adrian kopfschüttelnd.

»Sehen Sie, man muss die Geschichte gar nicht fälschen, um ihre Wahrheit zu verbergen; es genügt, sie der oberflächlichen Betrachtung zu überlassen. – Das heikelste Unterfangen der Drahtzieher aber bestand wohl darin, den lähmenden Eingriff ins Grenzregime vorzunehmen, und zwar so, dass die Tore ohne Gegenwehr ›aufgedrückt‹ werden konnten, sobald die Durchlass erheischende Menge die notwendige Größe und Bedrohlichkeit erreicht hatte. Hier steht die naive Version des glücklichen Zufalls wohl auf den kürzesten Beinen, denn im Grenzregiment und bei der kontrollierenden Stasi ging nichts ohne einen Befehl. Wer das bestreitet, beweist nur wie schon im Falle der Leipziger Demonstration – seine Unkenntnis militärischer Zusammenhänge. Selbst wenn es einen Befehl als solchen nicht gegeben hat, wäre dieses für das Grenzregime völlig untypische Verhalten eben auch als ein Befehl zu werten – als einer, der seinen Empfängern ganz bewusst gewisse Entscheidungskompetenzen übertrug. Die Tatsache, dass der öffnende Befehl so zu den Adressaten gelangen musste, dass die befehlserteilende Instanz im Dunkeln blieb, vereitelt zwangsläufig jede weiterführende Erkenntnis. Wichtig zu wissen ist, dass die Sowjets als Besatzungsmacht des Zweiten Weltkrieges jederzeit in die militärischen Belange der DDR hineingreifen konnten, gegebenfalls auch ohne die üblichen Formalitäten. Sie hatten beim Bau der Mauer das letzte Wort, und das blieb ihnen selbstverständlich auch für deren ›Abriss‹ vorbehalten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die für die sichere, unblutige Maueröffnung verantwortlichen Kräfte Gorbatschows die Grenzoffiziere vor Ort in ihrer schwierigen Lage allein gelassen haben. Auf welche Weise sie das kritische Geschehen in ihrem Sinne steuerten, wird wohl noch lange ein Geheimnis bleiben.«

»Es wird oft behauptet, dass die diensthabenden Offiziere in eigener Verantwortung die Tore geöffnet haben.«

»Das unbestrittene Verdienst der Mauerwächter besteht sicher darin, dass sie unter dem Druck des turbulenten Geschehens nicht die Nerven verloren – als Verantwortungsträger für die geplante, zuverlässige Öffnung der Grenzübergänge kommen sie nicht in Frage. Man kann die Dinge drehen und wenden wie man will, die ›Choreografie des Mauerfalls‹ war eine ausgesprochen raffinierte. Denn jene Kräfte, die mit ihren sorgfältig präparierten Nachrichten die Menschen in Scharen zu den Grenzübergängen lockten, waren im Grunde die gleichen, die auch dafür Sorge trugen, dass die Tore im geeigneten Moment geöffnet wurden. Jede andere Vorstellung, die diesen Zusammenhang leugnet – der Zufall inbegriffen –, wäre ungeheuerlich und zynisch. Die Gefahr für Leib und Leben der Mauerstürmer war auch am 9. November '89 unvermindert groß, und für einen blutigen Ausgang der Attacke hätte bei isolierter Vorgehensweise der sensationslüsternen Medien wohl keiner die Verantwortung übernehmen können. Allein dieses vernünftige, sittlich begründete Argument überführt die Drahtzieher im Hintergrund ihrer sorgfältig geplanten, konzertierten Aktion, denn eines ist doch völlig unbestritten: Ihre Absichten zielten auf die Einheit Deutschlands, nicht aber auf ein im Desaster endendes Abenteuer, bei welchem alles auf eine Karte gesetzt wurde. Ohne das perfekte Zusammenspiel der Geheimdienste – gemeint sind KGB, CIA und BND – ist das unglaubliche Arrangement des Mauerfalls nicht vorstellbar – ein Teamwork, das als einzigartig in die Geschichte eingegangen sein dürfte.«

»Das wird aber vielen Leuten nicht gefallen.«

»Schon möglich. Für den Forscher ist letztlich alles ein Spiel der gesellschaftlichen Kräfte, gleichviel, ob diese bei Lichte agieren oder sich im Dunkeln verschwören. Wer die koordinierte Handhabung von ›massenverschiebender‹ Nachricht und öffnendem Befehl nicht wahrhaben will – weil er die sittliche Notwendigkeit des Zusammenwirkens nicht begreift –, dem bleibt nur der Zufall mitsamt den durch die Ereignisse glattweg überrollten Grenzern.«

Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, versuchte Brückner seine Gedanken auf den Punkt zu bringen.
»Die Wende mit ihren entscheidenden Stationen und ihrem unmerklichen, irreversiblen ›Einbiegen‹ in die Vereinigungsentwicklung war der wohl brillanteste politische Coup des 20. Jahrhunderts – eine Operation, deren komplizierte kausale Struktur wohl niemals restlos aufgeklärt werden wird.«

»Aber besaß die Wende nicht auch moralische Qualitäten?«

»Das Ergebnis in gewisser Hinsicht schon, der strategisch-taktische Vorgang mitnichten. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Während Gorbatschow gemeinsam mit dem Westen auf die Einheit Deutschlands zusteuerte, trieb er mit den Perestroika-Anhängern in der DDR ein doppeltes Spiel. Beim Öffnungsvorgang sowie dem Sturz Erich Honeckers waren sie von Nutzen, beim Mauerfall und der anschließenden Vereinigungsentwicklung jedoch standen sie im Wege, und Gorbatschow war sich nicht zu fein, sie glattweg an den Westen zu verkaufen – das hat ihm so mancher bis heute nicht verziehen. Dabei war der Mauerfall als Votum für die rasche Beseitigung der innerdeutschen Grenze im Hinblick auf demokratische Gepflogenheiten ein höchst fragwürdiger Vorgang. Die Mauer als Unrechtseinrichtung, das heißt in Gestalt der verminten und per Schießbefehl gesicherten Grenze, hätte eher heute als morgen beseitigt werden müssen. Sie war aber nicht nur der absurde ›antifaschistische Schutzwall‹, sondern auch die unverzichtbare Markt- und Wirtschaftsbarriere, die das realsozialistische vom kapitalistischen System trennte, und somit das ›ungestörte Eigenleben‹ des Staates DDR gewährleistete. Die Abschaffung dieser Barriere hätte zweifelsfrei durch eine demokratische Entscheidung legitimiert werden müssen. So aber sind mit der Inszenierung eines spektakulären Mauerdurchbruchs vollendete Tatsachen geschaffen worden – aus Angst, den schnellen Anschluss zu verpassen. Dies ist der Grund dafür, warum bis heute keiner die politische Verantwortung für die Öffnung der Mauer übernehmen will, so dass der glückliche Zufall nach wie vor dafür herhalten muss.«

 

IX

Langsam schien sich die Gesprächslust zu erschöpfen. Nicht dass die Männer mit ihren Ideen am Ende gewesen wären, nein – der Kraftakt dieser intensiven Unterhaltung begann langsam seinen Tribut zu fordern. Und so war Brückner bemüht, dem Ausflug in die Gefilde des Herbstes '89 eine abschließende Betrachtung hinzuzufügen.
»Nun haben wir viel über die Wende hierzulande gesprochen, nicht aber darüber, wie das sozialistische Experiment im Ganzen geendet hat. Dabei ist der Misserfolg der Perestroika im Riesenreich der Sowjetunion der eigentliche, global entscheidende Faktor des Systemwechsels im Osten gewesen. Bezeichnenderweise ging der Untergang der Sowjetunion im Dezember 1991 – erst über die Bühne, nachdem die Demokratisierung der Satellitenstaaten abgeschlossen und die Einheit Deutschlands vollendet war. Der Übergang zur Demokratie erwies sich im Mutterland des Sozialismus als eine äußerst schwierige, hin- und herwogende, von Putsch und Staatsstreich geprägte Entwicklung, und es war die Ironie der Geschichte, dass die Hauptmacht am Ende selbst durchleben musste, was sie bei den nachgeordneten Einheiten in einer letzten Mission zu vermeiden gesucht hatte. Mit der ›Übergabe‹ der demokratisierten Satellitenstaaten hatte Gorbatschow seine politische Bedeutung für den Westen verloren, und man darf getrost davon ausgehen, dass fortan bei der Auflösung seines sozialistischen Imperiums energisch nachgeholfen wurde. Solange man ihn brauchte, sollte sein ungeliebtes Experiment nicht scheitern; nach der taktisch bedingten Schonzeit jedoch kannte man kein Erbarmen, und das schwer angeschlagene System brach schnell in sich zusammen. Als Trost für die erlittene Schmach feierte man Gorbatschow im Westen als den beliebtesten Kommunisten aller Zeiten, während seine deutschen ›Glaubensbrüder‹, die ihm ja letztlich unterstanden hatten, im Gefängnis büßen mussten. – Freiheit und Recht als unerforschlicher Ratschluss!?«

»Erstaunlich, wie die Indizien Ihrer Wende-Untersuchung schlüssig ins Gesamtbild passen. – Vielleicht noch eine letzte Frage: Würden Sie mir zustimmen, wenn ich summa summarum behaupte, die Wende war ein Erfolg?«

»Durchaus. Nur sollte man ihn dorthin setzen, wo er auch wirklich hingehört und nicht dem allgemeinen Glücksgefühl erliegen, das Festredner im Hinblick auf die Wende zu versprühen pflegen. Drei Thesen bringen den Charakter des Erfolges auf den Punkt. Erstens: Die wirtschaftliche Überlegenheit des Kapitalismus gegenüber dem realem Sozialismus ist eine Tatsache, an welcher auch nach siebzig Jahren erbitterter Rivalität nichts geändert werden konnte. Zweitens: Die soziale Qualität des Lebens vor und nach der Wende ist weithin eine Frage der subjektiven Erfahrung, auch wenn das den Apologeten der freien Welt nicht schmeckt. Und drittens: Die Verhältnisse in der geschlossenen Gesellschaft waren erstarrt, die in der offenen sind in Bewegung. Und nur wer sich bewegt, hat eine Chance, die Gesellschaft sinnvoll zu verändern.«

Es war spät geworden. Wider Erwarten hatten die Männer doch noch das Jagdschloss Granitz erreicht. Am Fuße des Schlossturms stehend, berieten sie über den Ausgang des Tages. Nach einer zünftigen Stärkung schlenderten sie zum Haltepunkt der Kleinbahn und fuhren müde, aber vollauf zufrieden ins heimische Quartier zurück. Doch an Schlaf war nicht zu denken, zu sehr bewegten die Wendebilder noch immer die Gemüter – das junge ebenso wie das alte. Und so beschlossen sie, bei einem Nachtspaziergang am Meer ihre Empfindungen ausklingen und ihre Seelen zur Ruhe kommen zu lassen.

Tags darauf tummelte sich Adrian noch einmal ausgiebig in Wind und Wellen, während Brückner daheim, auf der Terrasse seines Domizils, mit irgendeiner geheimnisvollen Arbeit beschäftigt schien. Er gehörte zu jenen seltenen Menschen, die immer etwas Wichtiges zu tun hatten. Am Abend saßen beide in einer als Konzertsaal ausgebauten Scheune, sich an den Klängen eines Streichquartettes labend. Damit ging dieser einzigartige Urlaub für Adrian zu Ende; am nächsten Morgen mußte er wieder zurück nach Berlin. Am Bahnhof überkam ihn ein Gefühl, als müsse er seinen alten Freund umarmen, so eng war ihre Beziehung in den letzten Tagen geworden. Brückner, der nur wenig später nachkommen wollte, ermunterte Adrian, sich geradewegs an ihn zu wenden, sobald er Schwierigkeiten hätte, das abenteuerliche Ränkespiel der Wende zu verdauen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, rief er seinem Schützling hinterher:
»Sie werden mir fehlen ... es gibt noch jede Menge Stoff, den ich gern mit Ihnen besprechen würde.«

 

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© 2008 Christian Sichler