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Die Physik des gesellschaftlichen Wandels

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zur Einführung in die Wendekapitel

 

I

Mittlerweile war es zwischen dem Autor und seinem Leser zu einer aufschlussreichen Diskussion gekommen. Dabei regten sich bei letzterem durchaus auch produktive Zweifel. Stein des Anstoßes war die von Brückner immer wieder angeführte These, dass der Systemwechsel primär auf die Leistungsschwäche des realen Sozialismus zurückgeführt werden müsse und nur sekundär auf die Repression des totalitären Staates. Und eben dies wollte unser jugendlicher Diskutant, der viel las und sich auch anderweitig informierte, so ohne weiteres nicht gelten lassen. Die gesamte einschlägige Literatur, so sein unerschütterlicher Einwand, stünde dagegen – Publikationen, die die Empörung gegenüber der Diktatur als eigentliche Triebkraft der Wende beschrieben. So viel ehrliche Naivität machte den alten Brückner schmunzeln, worauf er seinen Schützling fragte:
»Was glauben Sie wohl, wie diese einschlägige Literatur zustande gekommen ist?«

Adrian wusste nicht recht, worauf die Frage hinaussollte und zuckte mit den Achseln.

»Nun ja«, bemühte sich Brückner um eine knappe Erklärung, »die tieferliegenden Ursachen der Wende sind nicht eben populär, und nur was populär, zumindest aber unverfänglich ist, lässt sich am Ende verkaufen – da bleibt nur das rühmliche Aufbäumen gegen die morsche Diktatur.«

»Und die Wissenschaft?«

»Erforscht nur das, wofür man sie bezahlt, und der staatliche Geldgeber sieht's nicht gern, wenn das Ergebnis seiner Finanzierung Peinlichkeiten mit sich bringt.«

»Und Sie wollen das alles im Alleingang ändern?«

»Keineswegs, aber ich werde doch noch vertreten dürfen, was ich für richtig halte. Schließlich liegen die Beweise auf der Hand, nur ist es mühevoll, sie überzeugend zu entfalten.«

»Ich weiß nicht«, zeigte sich Adrian unsicher, »einer gegen den Rest der Welt ... es fällt mir schwer, Ihnen da zu folgen.«

»Kein Problem«, erwiderte Brückner väterlich gelassen, »es ist mir lieber, wenn Sie Ihr Misstrauen offen zeigen, anstatt aus falsch verstandenem Respekt die Dinge einfach nur zu glauben.«

Dann legte er den Kopf in die Hand und suchte nach einer Lösung, die er alsbald gefunden zu haben glaubte.
»Ich denke, wir kommen wohl nicht umhin, den Wendevorgang von Grund auf und mit geeigneten Mitteln zu untersuchen. Dazu brauchen wir aber Zeit und Ruhe.«

»Das wollen Sie wirklich für mich tun?«

»Warum denn nicht? So uneigennützig ist das gar nicht. Ich habe wenig Lust, meine Weisheiten allesamt mit ins Grab zu nehmen. Es kann mir doch gar nichts Besseres passieren, als dass ein junger Mensch aus freien Stücken sich für das Ganze interessiert. Eins müssen Sie mir aber versprechen: Bringen Sie auch in Zukunft jeden begründeten Zweifel und jede scheinbar dumme Frage zur Sprache – dann haben wir am Ende beide etwas gewonnen.«

 

II

Es war Sommer und Michael Brückner verbrachte seinen Urlaub am Ostseestrand. Immer wieder zog es ihn in diese Gegend, denn er liebte das Land und die Leute, besonders aber die endlose Weite des Meeres.Adrian hatte Ferien und jede Menge Zeit. Das Angebot einer ausführlichen Wendeuntersuchung erneuernd, hatte Brückner den wissbegierigen jungen Mann in sein Urlaubsquartier auf der Insel Rügen eingeladen; dort könne man ungestört und mit Muße die erforderlichen Studien treiben. Die Rede war von ausgedehnten Wanderungen, die man unternehmen werde – man müsse sich bewegen, wenn man die Geschichte beweglichen Geistes erforschen wolle. Und im Übrigen wäre die Insel auf bemerkenswerte Weise mit Anfang und Ende des realen Sozialismus verbunden; Einzelheiten dieser fast vergessenen Verbindung sollten aber erst vor Ort verraten werden. Adrian war gespannt auf das seltene Abenteuer, denn – für Überraschungen schien der alte Mann ja nun wirklich wie geschaffen.

Brückner bewohnte eine kleine Ferienwohnung im Ostseebad Sellin. Von dort aus durchstreifte er die Landschaft des Mönchgut und der Granitz, die er ausnehmend gut kannte. Auch an heißen Tagen war das Wandern ein Vergnügen, sofern man sich nicht allzu weit von der Möglichkeit eines kühlen Bades entfernte. – Kaum dass Adrian an einem Sonntag im August am Urlaubsort eingetroffen war, wurde ihm ein stattliches Programm unterbreitet, in welchem locker aufgelistet war, was sich der alte Herr so alles vorgenommen hatte. Es war noch früh am Tag; der Gast schien etwas müde und nicht gewillt, den Plan mit lautem Jubel zu begrüßen, so dass Brückner, der die Lage schnell erfasste, versuchte, mildere Töne anzuschlagen, freilich ohne sich dabei von seinem Vorhaben abbringen zu lassen.

»Nicht verzagen, mein Freund, ich bin doch kein Unmensch. – Jetzt gehen wir erst mal ordentlich schwimmen, das lockert die Glieder und erquickt die Seele. Und dann machen wir gemeinsam eine kleine Schiffsreise, die Ihnen bestimmt gefallen wird.«

Das klang doch schon ganz anders, und eine halbe Stunde später tummelten sich beide in den Wellen der Ostsee. Nach ausgiebigem Frühstück und einem kleinen Spaziergang standen sie an der Reling eines Küstenschiffes auf der Fahrt von Sellin nach Sassnitz. Zu Füßen die mäßig bewegte See und über sich einen wolkenverhangenen Himmel. Nur wenige Passagiere befanden sich an Bord – ideale Bedingungen, um in Ruhe zu plaudern. Brückner schien in fast gehobener Stimmung.
»Ich hatte doch neulich durchblicken lassen, dass es gewisse Verbindungen gäbe zwischen Rügen und der Ostsee einerseits und der Geschichte des realen Sozialismus andererseits. Haben Sie eine Vorstellung, was ich da gemeint haben könnte?«

»Keine Ahnung", gestand Adrian offenherzig sein Unwissen.«

»Nun, ich kann das natürlich hier nur anreißen. Es gibt drei interessante Berührungspunkte. Der erste hat zu tun mit dem Beginn der sozialistischen Epoche 1917 in Russland, der zweite mit deren Ende 1989 in der damaligen DDR, und der dritte betrifft sozusagen eine Art Vorkämpfer des Sozialismus im Mittelalter.«

»Das höre ich aber heute zum ersten Mal.«

Brückner genoss die ungläubige Miene seines jungen Freundes, worauf dieser etwas unwirsch seiner Neugier Luft machte.
»Nun spannen Sie mich doch nicht so lange auf die Folter.«

»Apropos Folter. Mit dem dritten Berührungspunkt meine ich Klaus Störtebeker und seine Likedeeler, die dort hinten, in der Nähe des Königsstuhls, ihr Versteck gehabt haben sollen.« Dabei zeigte Brückner in Richtung Sassnitz auf die Kreidefelsen. »Likedeeler bedeutet ja soviel wie ›Gleichteiler‹. Das heißt salopp gesagt, die wollten letztlich nichts anderes, als die Genossen im realen Sozialismus auch: eine gewaltsame Umverteilung von Reich nach Arm, wobei die Beute zu gleichen Teilen unters Volk gebracht wurde. Nur waren die Mittel im 20. Jahrhundert ein klein wenig zivilisierter, aber darüber könnte man auch streiten. Für ihr wenig zimperliches Vorgehen besaßen die Seeräuber vielfach ordentliche Kaperbriefe, ausgestellt von den absolutistischen Herrschern der damaligen Zeit, die sich gegenseitig Macht und Reichtum abzujagen suchten. Doch Könige, Herzöge und Grafen wünschten eine Umverteilung ausschließlich im gehobenen Kreise und reagierten sauer, als sie merkten, dass der Störtebeker sozusagen auf eigene Kappe beträchtliches Kapital in die unteren Regionen der Gesellschaft verschob. Solch schlimmer Notstand ließ die Mächtigen zusammenrücken. Sie begruben eine Zeitlang ihre Zwistigkeiten und schnappten sich den Burschen, der die gottgewollte Ordnung in Frage zu stellen wagte. Und so rollte schließlich Störtebekers Kopf – 1401 in Hamburg auf dem Grasbrook.«

»Unglaublich. Und das ist wirklich so gewesen?«

»Vielleicht nicht ganz. Die Sage berichtet jedenfalls davon, und wer will, kann sich das Ganze als hervorragend inszeniertes Spektakel auf der Naturbühne von Ralswiek ansehen. Bemerkenswerterweise sind die Zuschauer dort immer hellauf begeistert, wenn den reichen Pfeffersäcken mit drakonischer Geste das Geld abgenommen und das Elend der Armen damit gelindert wird – und das nicht nur wegen der überzeugenden schauspielerischen Leistung. Die rabiate Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit ist auch heute noch populär. Aber ich denke, das sollten wir jetzt nicht weiter vertiefen.«

»Der zweite Berührungspunkt«, fuhr Brückner mit seinen Erläuterungen fort, »ist der Fährhafen Mukran, dessen Bau seinerzeit – so könnte man sagen – den Anfang vom Ende der sozialistischen Ära eingeläutet hatte. Schauen Sie ... dort drüben, da können Sie ihn sehen. Mittlerweile hat man aus der Not von damals längst eine Tugend gemacht. Zwei Fährhäfen – Sassnitz und Mukran – hätte man sich nach der Wende nicht leisten können, und da Mukran der jüngere und modernere von beiden war, wurden später, nachdem man die Hafenanlagen dort weiter ausgebaut hatte, sämtliche Fährverbindungen über Mukran abgewickelt. In Sassnitz hingegen sind alle Transiteinrichtungen stillgelegt worden.«

»Aber warum hat man den Fährhafen Mukran überhaupt gebaut?«

»Zu DDR-Zeiten war das ein Staatsgeheimnis, über das öffentlich nicht gesprochen wurde. Noch heute wird vielfach so getan, als ob es für dieses gewaltige Unternehmen keinen besonderen Grund gegeben hätte. Dem ist aber nicht so. 1980 hatte sich in Polen die unabhängige Gewerkschaft Solidarność behaupten können, womit das sozialistische Bruderland zwischen DDR und Sowjetunion eine politisch instabile Region geworden war. Diese Region aber war als militärisches und wirtschaftliches Durchgangsgebiet von eminenter strategischer Bedeutung: Der gesamte militärische Nachschub für die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland rollte über Polen, dazu etwa 70% aller Handelsgüter, die die Sowjetunion mit der DDR tauschte. Angesichts der geänderten Lage konnten sich die Sowjets nicht mehr sicher sein, dass die polnischen Genossen nicht eines Tages – unter dem Druck ihrer abtrünnigen Gewerkschaft – die Schotten dicht machen würden. Es musste also schnell gehandelt werden, wenn ein Fiasko an der Frontlinie zwischen Ost und West vermieden werden sollte. Und so stampfte man in einem ungeheuren Kraftakt einen zweiten, milliardenschweren Fährhafen aus dem Boden, an einer Stelle, an welcher bislang nur das unbekannte Dorf Mukran zwischen Prora und Sassnitz gestanden hatte. Die Fährlinie Mukran-Klaipeda (das ist Memel in Litauen) wurde 1986 – also noch zu sozialistischen Zeiten – in Betrieb genommen. Sie konnte bis zu achtzigtausend Waggons pro Jahr bewältigen und somit Polen aus dem Eisenbahntransit zwischen UdSSR und DDR heraushalten. Die Tragik des Ganzen bestand darin, dass der Wettlauf der Systeme – genauer die Konkurrenz ihrer militärisch-industriellen Komplexe – bereits Ende der 1970er Jahre entschieden war und der siegreiche Westen durch Nötigung zu diesem gigantischen, aber letztlich nutzlosen Kraftakt dem Ostblock nur noch den Rest gegeben hat. Ohne die militärische Druckkulisse wäre der Hafen wohl nie gebaut worden.«

»Wie kommen Sie darauf, daß es sich hierbei um Nötigung gehandelt hat? Was hatte die polnische Solidarność mit dem Westen zu tun?«

»Das werde ich Ihnen erklären, wenn wir den Wendevorgang strategisch auseinandernehmen. – Etwa zeitgleich mit der Entstehung des Transitproblems wurde die Sowjetunion in Afghanistan provoziert, gewaltige militärische Kräfte zu verausgaben. Danach brauchte der Westen bloß noch zuzuschauen, wie der ohnehin stark angeschlagene sozialistische Riese alle Viere von sich streckte. Das Timing Polen / Afghanistan war offenbar sehr sorgfältig gewählt worden. – Sehen Sie da drüben den dunklen Koloss?« Brückner wies auf den Horizont. »Der bewegt sich nach Osten in Richtung Litauen, während links davon die Schwedenfähre hinter den Kreidefelsen verschwindet.«

Adrian atmete tief durch.
»Ich wusste – das wird ein Geschichtsunterricht der besonderen Art, und dabei habe ich noch das Vergnügen, Urlaub zu machen. ... und was ist mit dem dritten Berührungspunkt?«

»Um den kümmern wir uns, wenn wir in Sassnitz an Land gegangen sind. Kommen Sie, wir woll'n vorher noch etwas trinken.«

 

III

Eine Stunde später standen die beiden Männer vor dem Bahnhof in Sassnitz. Adrian schaute ungläubig drein.
»Wollen Sie jetzt mit mir verreisen?«

»Eigentlich nicht, aber vor fast hundert Jahren wollte einer der bekanntesten Männer der Weltgeschichte sich von diesem Bahnhof aus einschiffen und nach Schweden übersetzen.«

»Wer ...?«

»Wladimir Iljitsch Lenin, der wohl berühmteste Berufsrevolutionär aller Zeiten, ohne den die Existenz der Sowjetunion im 20. Jahrhundert nur schwer vorstellbar ist. Er kam aus der Schweiz und fuhr in einem plombierten Waggon durch Deutschland bis eben hierher und dann weiter über Schweden und Finnland bis Petrograd in Russland, wo er kurze Zeit später den Bolschewiki zur Macht verhalf – der Geburtsakt des real existierenden Sozialismus.«

»Dann müsste hier eigentlich ein Museum stehen?«

»Das gab es auch. Dort drüben konnte man jahrzehntelang den Waggon besichtigen, in dem Lenin gereist war, man hatte extra ein Gleis dafür zur Verfügung gestellt. Der Waggon war als Museumswagen ausgebaut, und der sozialistische Staat hatte ein ureigenes Interesse daran, das Ganze zu erhalten.«

»Wieso ist er nicht mehr da?«

»Das weiß ich nicht. Nach der Wende habe ich in jedem Sommer vorbeigeschaut; irgendwann war er sang- und klanglos verschwunden.«

»Und wohin ist er gebracht worden?«

»Ich habe damals im Bahnhof nachgefragt, sie wussten es nicht, irgendwohin ins Süddeutsche ... wo er nicht hingehört ... die Bahn hätte kein Geld mehr für die Unterhaltung gehabt. – So wird lebendiges Geschichtsbewusstsein kaputtgemacht. Ich glaube, das Verschwinden war wohl weniger eine Frage des Geldes, eher eine des Bekenntnisses zur eigenen, unrühmlichen Vergangenheit.«

Adrian schluckte.
»Da kann Ihnen natürlich ein normaler Mensch nicht folgen.«

»O Gott«, erwiderte Brückner lachend, »ich verlange wieder mal Unmögliches. Aber Sie kennen mich ja mittlerweile. Es ist richtig, dass Sie sich das nicht gefallen lassen. – Also ... mit dem Waggon war das so eine Sache. Natürlich hatte auch der sozialistische Staat seinen Zöglingen nie die ganze Wahrheit über das Leninsche Abenteuer zugemutet, aber in den Händen kapitalismusbegeisterter Demokraten konnte sie leicht zu einer heißen Kartoffel werden, die man besser fallen ließ, ehe man sich die Finger daran verbrannte.«

»Das hing sicher mit dem Verlauf des ersten Weltkrieges zusammen?«

»Ganz recht. Schon wenige Monate nach Kriegsausbruch war das kaiserliche Deutschland in hohem Maße an einer Entlastung im Osten interessiert, um dem zermürbenden Zweifrontenkrieg zu entgehen und alle Kraft gegen die Westmächte einsetzen zu können. Diesen Umstand machte sich ein gewisser Alexander Parvus zunutze, ein im europäischen Ausland agierender russischer Revolutionär und gerissener Geschäftsmann. Beseelt von der Idee, den Zarismus zu stürzen, unterbreitete er der deutschen Reichsregierung ein beispielloses Angebot: Für den Fall, dass Deutschland die finanziellen Mittel für die umfassende Vorbereitung eines bolschewistischen Umsturzes in Russland zur Verfügung stellte, sollten die ans Ruder gekommenen Revolutionäre umgehend die Kampfhandlungen im Rahmen eines Friedensvertrages beenden. Die Reichsregierung akzeptierte und Parvus, der mit Lenin in Verbindung stand, zog fortan, gemeinsam mit Diplomaten, Bankiers und diversen Mittelsmännern alle subversiven Register, um Russland für den Umsturz ›reif‹ zu machen. An die
50 Millionen Reichsmark hat die deutsche Regierung sich die Förderung des Machtwechsels kosten lassen, ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Leitfigur der Revolution ohne die schützende Hand des Kaisers den Ort des Umsturzes nie erreicht hätte. Auch wenn Lenin sich zur direkten Kooperation mit Parvus verständlicherweise nicht bekannt hat – soviel steht fest: Ohne diesen brillanten Geschäftsmann und seine umfassende Vorarbeit wäre er niemals an die Macht gelangt. Wer weiß, welche Entwicklung das 20. Jahrhundert dann genommen hätte?«

Adrian hatte es die Sprache verschlagen.
»Langsam beginne ich zu begreifen, was da gespielt wurde.«

»Es war ein skrupelloser Deal. In den Geschichtsbüchern des realen Sozialismus wurde darüber geflissentlich geschwiegen, aber auch in denen der freien Welt ist davon nichts zu lesen. Es gäbe eine kleine Katastrophe, müsste man zugeben, dass die Regeln kapitalistischer Erfolgsbeschaffung zum Geburtshelfer kommunistischer Gewaltherrschaft geworden waren.«

»Kein Wunder, dass die Erinnerung an die Vergangenheit so schnell getilgt werden musste.«

»Das meine ich auch«, murmelte Brückner zustimmend. »Nun aber nochmal zurück zu unserem Waggon, besser gesagt zur historischen Rolle, die er gespielt hat. Lenin befand sich während des Krieges, wie schon erwähnt, im Schweizer Exil, wo er seine Vorbereitungen für die geplante Machtübernahme traf. Von der zaristischen Geheimpolizei überall gesucht wäre er bei seiner Einreise in Russland sofort verhaftet worden. Also musste eine Möglichkeit gefunden werden, ihn an unerwarteter Stelle und insgeheim nach Russland hinein zu bringen, am besten dort, wo er den Aufstand proben wollte. Und so erklärte sich die deutsche Reichsregierung bereit, Lenin in einem plombierten Waggon einschließlich Begleitschutz von der Schweiz durch Deutschland bis nach Sassnitz zu transportieren und dann weiter ... aber das habe ich ja bereits erzählt. Im März 1918, wenige Monate nach dem Petrograder Novemberputsch, der als ›Oktoberrevolution‹ in die Geschichte eingegangen ist, unterschrieb Lenin den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, ein Abkommen zwischen den Mittelmächten und der jungen Sowjetmacht. So hatte das kaiserliche Deutschland seinem Gegner im Osten den Frieden schließlich abgekauft, zu einem Preis, der noch nach siebzig Jahren als real existierender Sozialismus erschreckend zu Buche schlagen sollte. Und falls Sie wieder mal gesunde Zweifel plagen, lesen Sie's nach bei Stefan Zweig. Dieser profunde Kenner der Geschichte hat dem folgenschweren Ereignis in seinen ›Sternstunden der Menschheit‹ ein literarisches Denkmal gesetzt. Vielleicht ist ihm das Ganze eine Spur zu pathetisch geraten, und ob es eine Sternstunde war, darf aus heutiger Sicht bezweifelt werden; auf jeden Fall aber hat er den unerhörten Vorgang mit seiner Kunst dem Vergessen entrissen. Selbstverständlich gibt es auch unanfechtbare Beweise, welche die Wissenschaft – in aller Stille – für den notorischen Zweifler bereithält.«

Auf der Rückfahrt von Sassnitz nach Sellin bemerkte Adrian leicht erschöpft, einem Anflug von Ironie die Zügel schießen lassend:
»Ich gebe zu: Kein Ort dieser Welt scheint besser geeignet, dem realen Sozialismus auf die Spur zu kommen, als die Insel Rügen.«

 

IV

Am nächsten Tag waren die beiden Männer schon früh auf den Beinen. Eine ausgedehnte Wanderung sollte ihnen Gelegenheit geben, die verwickelten Zusammenhänge der Wende in aller Ruhe zu durchleuchten. Gut gelaunt erreichten sie den Hochuferweg von Sellin nach Binz, eine Strecke mit beträchtlichen Höhenunterschieden und nicht ganz leicht zu nehmendem Gelände, dafür aber mit herrlichen Aussichten auf das Meer und die gegenüberliegende Landschaft der Insel. Brückner, mit seinen über siebzig Jahren noch auffallend gut zu Fuß, erklomm die Anhöhen des Weges fast mühelos wie eine Gemse. Die körperliche Bewegung schien ihm ebenso viel Spaß zu machen wie die geistige. Beim Laufen, so ließ er seinen Begleiter wissen, hätte er noch immer die besten Einfälle. Und überhaupt hielte er es mit dem alten Seume, welcher der Meinung war, »dass alles besser ginge, wenn man mehr ginge.« Bei diesem Geständnis schaute Adrian so ungläubig drein, dass Brückner stirnrunzelnd nachhakte.
»Was, Sie kennen Johann Gottfried Seume nicht, das wackere Gemüt aus dem 18. Jahrhundert? Sein ›Spaziergang nach Syrakus‹ hat ihn berühmtgemacht; ein Mann mit erstaunlichen Ambitionen.«

Nachdem die Bildungslücke gestopft war, kam Adrian ohne Umschweife zur Sache.
»Was fasziniert Sie eigentlich so sehr am Systemwechsel, strenggenommen wollen Sie doch in die Zukunft?«

»Mich interessieren an der Sache weniger die vordergründigen Erfolge einer ihre wahren Beweggründe verschleiernden Politik, vielmehr hingegen die sittlichen oder unsittlichen Kräfte, die das Rad der Geschichte drehen. Das Wendegeschehen als ›Physik‹ des gesellschaftlichen Wandels – das ist es, was mich fasziniert, eine Betrachtungsweise, an deren Ergebnis letztlich auch die Ideenbildung für die Zukunft hängt. Wer die tieferen Zusammenhänge des Systemwechsels verkennt, kann unmöglich zu brauchbaren Lösungen für die Nachwelt finden. – So, und nun wollen wir mal versuchen, das heiße Eisen anzupacken. Meine zentrale These kennen Sie ja zur Genüge: Die Niederlage des Ostblocks im Wettlauf der Systeme – gemeint ist der (militär)wirtschaftliche Wettbewerb – war die primäre, eigentliche Ursache für die Wende, sozusagen die Schubkraft der historischen Entwicklung. Die Auflehnung gegen den totalitären Staat war dabei nur von sekundärer, lokal bedingter Bedeutung, ohne Einfluss auf die Grundrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung.«

»Warum legen Sie so großen Wert auf die sorgfältige Differenzierung von primären und sekundären Ursachen?«

»Weil ... das war ja gerade der Grund für Ihre Zweifel, weil die offizielle Version der Wende die Dinge gerade andersherum darstellt, sofern auf den Leistungszusammenhang überhaupt Bezug genommen wird. Vor einem solchen Hintergrund schießen die sozialistischen Phantasien auch heute noch ins Kraut, als hätte es den realen Sozialismus nie gegeben. Wer das Verhältnis der historischen Fakten vernebelt, der muss sich nicht wundern, wenn die Lehren aus der Geschichte nicht gezogen werden. – Wenn Sie wollen, kann ich meine These auch anders formulieren, etwa so: Der Systemwechsel glich einer Revolution von oben, die der sozialistische Administrator nach der Niederlage im Leistungswettbewerb durchzuführen bereit war, wobei er aus strategisch-taktischen Gründen in den renitenten Randgebieten seiner Einflusssphäre eine Revolution von unten anblies und seinen Zwecken dienstbar machte. Die Revolution von unten wäre aber ohne die Revolution von oben nicht vorstellbar gewesen, von ihren Erfolgsaussichten ganz zu schweigen.«

Adrian blieb stehen, um Brückners Ausführungen respektvoll zu quittieren.
»Beeindruckend, wie Sie das komplizierte Problem ins Bild zu setzen vermögen. – Die Details kann ich Ihnen aber trotzdem nicht ersparen.«

»Das sollen Sie auch nicht; ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, wie ich Ihnen das Ganze am besten nahebringe. Zunächst stehen wir vor den unumstößlichen historischen Tatsachen wie Perestroika, friedliche Revolution, Mauerfall und deutsche Einheit. Wer die Wende wirklich begreifen will, kommt aber nicht umhin, Zustandekommen und Verlauf dieser Ereignisse im Einzelnen zu erklären. Bei einem solchen Unterfangen bewegen wir uns offensichtlich in einem beträchtlichen Erklärungsspielraum, für dessen Varianten sich nach wie vor keine Beweise erbringen lassen, so dass wir auf Indizien im Rahmen eines Glaubwürdigkeitsvergleiches angewiesen sind. Man kann nun die Erklärung in ein politisch opportunes Raster zwängen, mit dem Zufall spielen und die vorhandenen Gegenargumente einfach ignorieren, dann hätten wir die offizielle, also die von Staats wegen verkündete und in den Lehranstalten propagierte Version. Man kann aber auch die Physik des gesellschaftlichen Wandels bemühen, welche die genannten Tatsachen vor dem gemeinsamen zwingenden Hintergrund zu erfassen und in Beziehung zu setzen sucht, unabhängig davon, ob das Ergebnis den ›Hütern der öffentlichen Meinung‹ in den Kram passt oder nicht. Am Ende muss jeder mit sich selbst ausmachen, welchen Erklärungsansatz er für glaubwürdig hält, und ich will auch nicht ausschließen, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen beiden liegen könnte.«

In der letzten halben Stunde waren die beiden Männer nur langsam vorangekommen; immer wieder mussten sie stehenbleiben, um der schwierigen Materie, die sie beschäftigte, gerecht werden zu können. Schließlich hatten sie sich an einer Stelle, die man den »Schanzenort« nannte, niedergelassen, direkt am Hochufer – über sich den Himmel und vor sich das Meer, dessen gekräuselte Oberfläche leise rauschte. Hier saßen sie minutenlang schweigend beieinander. Für Adrian war es nicht immer leicht, seinem Meister über alle Klippen hinweg zu folgen, und er nutzte die willkommene Zäsur, um seine überquellenden Gedanken zu ordnen und in geregelte Bahnen zu lenken. Brückner indes hatte es nicht eilig; in Ruhe schien er darauf zu warten, dass sein junger Freund das Gespräch wieder anlaufen ließ.

 

V

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe«, beendete Adrian das Schweigen, »dann verbirgt sich hinter dem gemeinsamen zwingenden Hintergrund die bereits erwähnte Niederlage des Ostblocks im Wettlauf der Systeme.«

»So ist es«, antwortete Brückner, sich erhebend und seinen Begleiter zur Fortsetzung der Wanderung ermunternd, »bleibt allerdings zu fragen, warum der gewaltige Unterschied der wirtschaftlichen Leistungskräfte nicht schon viel früher zu einschneidenden Konsequenzen geführt hatte. Die Antwort greift zurück in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Das gegenseitige Verhältnis der Systeme, welches letztlich über Sein oder Nichtsein entschied, war kraftspezifischer Natur, im Bilde gesprochen: Derjenige, der die ›Keule‹ mit der größeren Zerstörungskraft in Händen hielt, machte damit deutlich, dass er die eigenen Strukturen der anderen Seite aufzwingen konnte. Nach dem zweiten Weltkrieg führte der Kampf um den entscheidenden Vorsprung zunächst in ein militärisches Gleichgewicht, das über Jahrzehnte aufrechterhalten werden konnte. Die damals beiderseits verfügbaren Atomwaffen machten eine einseitige Profilierung unmöglich. Während das sozialistische System sein Waffenarsenal mit letzter Kraft und auf Kosten der zivilen Wirtschaft füllte, gelang es dem kapitalistischen Gegenspieler nicht, seine wirtschaftliche Überlegenheit militärisch geltend zu machen. Das atomare Zerstörungspotential als solches sicherte dem leistungsschwachen Sozialismus die unangetastete Existenz.
Das ging solange gut, bis der wissenschaftlich-technische Fortschritt das digitale Zeitalter eingeläutet hatte, das in atemberaubender Geschwindigkeit besonders in der Militärtechnik Einzug hielt. Plötzlich genügte es nicht mehr, die Atombombe oder atomare Sprengköpfe in ausreichender Anzahl zu besitzen – die strategische Flexibilität der computergesteuerten Frühwarn- und Raketenabwehrsysteme entschied darüber, ob ein Militärschlag ausgeführt werden konnte oder ob er bereits im Ansatz der Vereitelung durch den Gegner preisgegeben war. Zu all dem eröffnete sich die Möglichkeit, den Weltraum ins kriegerische Kalkül mit einzubeziehen. – Angesichts dieser neuerlichen Umstände sahen die Amerikaner ihre Stunde gekommen; jetzt galt es, die eigenen, bislang ungenutzten Reserven zu erschließen und dem Gegner die definitive Leistungsgrenze aufzuzeigen. Und so entfesselten sie einen erbarmungslosen Kampf der militärisch-industriellen Komplexe, mit dem Ziel, das sozialistische System regelrecht tot zu rüsten. Gegen Ende der 1970er Jahre war der ungleiche Kampf entschieden. Fortan hätte der Ostblock den militärischen Möglichkeiten des Westens keinen existenzerhaltenden Widerstand mehr entgegensetzen können – es war die endgültige, unwiderrufliche Niederlage des realen Sozialismus im kalten Krieg der Systeme.«

»Wäre der Sozialismus auch ohne diesen Druck von außen am Ende gewesen?«

»Nicht unbedingt. Die leistungsschwache Wirtschaft hätte noch Jahrzehnte vor sich hin dümpeln können, protegiert durch die planmäßige Selbsttäuschungspraxis des totalitären Staates. Es ist aber müßig, darüber zu spekulieren. Ungeachtet dessen, was die Sozialisten von der eigenen Lage hielten, hatten diejenigen, die nunmehr das Sagen hatten, nicht das geringste Interesse am Fortbestand des niedergerungenen Systems.«

»Das heißt, die Wende wäre eigentlich schon zehn Jahre früher fällig gewesen?«

»Aus rein strategischer Sicht und mit Blick auf die konkreten militärischen Potenzen könnte man das so sagen. Was zu diesem Zeitpunkt aber noch fehlte, war das verbindliche Eingeständnis der Niederlage durch den Besiegten. Ob der es noch nicht erkennen konnte oder bloß nicht wahrhaben wollte – gleichviel, das Debakel schien noch nicht drastisch genug, als dass man die Früchte des Sieges schon hätte ernten können. Also musste nachgeholfen werden, das Bewusstsein der endgültigen Niederlage zu erwecken. Das geschah, ich hatte es bereits erwähnt, zum einen durch Destabilisierung der politischen Verhältnisse im strategisch unverzichtbaren Polen und zum andern durch Hineintreiben der Sowjetunion in einen kräfteverschleißenden Krieg mit Afghanistan. Entscheidend für die Aufrechterhaltung der letzteren Behauptung ist die Tatsache, dass die Sowjets die Invasion erst betrieben, nachdem die Amerikaner begonnen hatten, die Gegner des prokommunistischen Regimes in Kabul in großem Umfang mit Geld und Waffen zu versorgen. Dabei ging es der CIA nicht nur um die Niederwerfung des afghanischen Regimes, sondern auch um die direkte Unterwanderung der muslimischen Bevölkerung in den benachbarten Sowjetrepubliken. Mit der Invasion sollte die sozialistische Supermacht in eine Falle laufen, aus der es kein Entrinnen gab – in eben jenem Moment, da sie den kalten Krieg verloren hatte. Aber hier wissen Sie vielleicht aufgrund Ihrer eigenen Nachforschungen besser Bescheid als ich.«

»Das ist bestimmt übertrieben«, erwiderte Adrian bescheiden, »aber immerhin, die Erkenntnisse, die ich bei meinem Aufenthalt in Afghanistan gewinnen konnte, stimmen auffallend mit Ihrer Darstellung überein.«

»Freut mich, zu hören. Nun aber zu Polen. Um das politische System zu destabilisieren, schien die Unterstützung der im Untergrund agierenden Opposition in besonderer Weise geeignet. Schon seit längerem wurde an der Gründung unabhängiger Gewerkschaften gearbeitet. Um einen Streik durchzuhalten, der das ganze Land erfasste und die Zulassung der neuen Gewerkschaft erzwang, brauchte es Geld – viel Geld. Dieses Bedürfnis kam den Amerikanern wie gerufen, das Problem war nur: Wie kam ihre ›Spende‹ in die Hände der zum Streik entschlossenen Gewerkschafter? Jetzt wurde es interessant. War nicht der Papst einst polnischer Kardinal gewesen? Der Vatikan als Retter in der Not! Und so geschah es. Die CIA transferierte – über ›geeignete Kanäle‹ – eine stattliche Summe an die Vatikanbank, die leitete das Geld zu den örtlichen Einrichtungen der katholischen Kirche in Polen, und von dort gelangten die sehnsüchtig erwarteten Mittel in die Hände der gläubigen Gewerkschafter. Die veranstalteten im Namen Gottes einen Aufstand, der die Kommunisten erzittern ließ, und von Stund' an herrschte in Polen so etwas wie der Ausnahmezustand.«

»Und wie ist die Sache schließlich herausgekommen? Das alles war doch sicher streng geheim.«

»Ganz einfach. Wie immer bei solcher Geheimbündelei – die größte Gefahr, entdeckt zu werden, liegt bei den Geheimbündlern selbst für den Fall, dass sie sich später in die Haare kriegen. So war es auch hier. Die Banco Ambrosiano in Mailand, die bei der Transaktion zwischen CIA und Vatikanbank vermittelt hatte, kam schon kurze Zeit später in Schwierigkeiten, so dass sich Roberto Calvi, der Präsident des Geldinstitutes, veranlasst sah, den Vatikan um Hilfe zu bitten. Doch der Heilige Stuhl stellte sich taub. Calvi, in die Machenschaften mehrerer Geheimorganisationen verstrickt und mit den Interna politikgestaltender Transaktionen bestens vertraut, geriet daraufhin immer mehr unter Druck, bis er schließlich als Bankpräsident entmachtet wurde. Damit war das entstandene Missverhältnis perfekt: Er wusste zuviel und war zu nichts mehr zu gebrauchen. 1982 wurde er in London tot unter einer Brücke aufgefunden. Im Weiteren kamen die konspirativen Zusammenhänge langsam ans Tageslicht. – In den bewegten Monaten nach der Wende wagte ein unabhängiger Sender die ausführliche Dokumentation dieser Vorgänge. Mittlerweile befassen sich einschlägige Bücher mit der heiklen Problematik.«

»Weiß man, wie viel Geld damals geflossen ist?«

»Die genaue Summe dürfte sich nur schwerlich ermitteln lassen – die Archive öffnen sich vielleicht in fünfzig Jahren –, aber wenn man davon ausgeht, dass es mehr als 100 Millionen Dollar gewesen sein sollen, dann begreift man, welch eminente Bedeutung die Ereignisse in Polen für den bevorstehenden Systemwechsel im Ostblock hatten. Experten gehen davon aus, dass es seinerzeit eine Allianz zwischen den USA und dem Vatikan gegeben hat, deren Ziel die endgültige Zerschlagung des Kommunismus gewesen ist. ... Da wir gerade beim Geld sind – im Hinblick auf die Wende werden wir es noch öfter mit größeren Beträgen zu tun haben.«

»Die Wende als einträgliches Geschäft!?«

»Nicht nur – aber eine wesentliche, meist verschwiegene Komponente war es allemal. Wer die Dinge unvoreingenommen untersucht, kommt nicht umhin, die erfolgreiche Auflehnung gegen den totalitären Staat als zweiseitiges Phänomen zu begreifen. Was die polnische Solidarność anbelangt – sicher, die Opposition war da und ihr berechtigtes Anliegen kann niemand bestreiten. Aber ohne gezielte Unterstützung von außen hätte sie niemals die durchschlagende Wirkung erreicht, die schließlich mit half, das Rad der Geschichte zu drehen. Noch wenige Jahre zuvor wäre der Westen nicht im Traum auf die Idee gekommen, einer renitenten Gewerkschaft des Ostens so großzügig unter die Arme zu greifen. 1980 aber lagen die Dinge anders, denn ein militärisches Abenteuer in Polen konnten sich die Sowjets nicht leisten, da sie bereits mit Afghanistan vollauf beschäftigt waren. – Übrigens, 1981 wurde ein Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübt, das er schwerverletzt überlebte. Fünfundzwanzig Jahre später bestätigte ein Untersuchungsausschuss des italienischen Parlamentes, was der Papst schon immer geahnt hatte: Der Befehl für den Anschlag war von Kremlchef Breschnew höchstpersönlich erteilt worden. Der Beweis dafür, dass die Sowjets ihre endgültige Niederlage noch immer nicht akzeptierten und erbittert um sich schlugen.«

»Alles in allem ein abenteuerlicher Vorgang.«

»Es ist erst der Anfang, gerade gut genug, um sich langsam ans politische Abenteuer zu gewöhnen. Es kommt noch weitaus dicker, und Sie werden Mühe haben, meiner Darstellung zu folgen. – Übrigens, auch die unabhängige Gewerkschaft Solidarność war aufs Engste mit der Ostseeküste verbunden, denn ihr Siegeszug hatte mit dem legendären Streik auf der Danziger Lenin-Werft begonnen.«

 

VI

Soeben hatten die beiden Wanderer eine jener Lichtungen erreicht, die einen überwältigenden Ausblick auf das Meer eröffneten. Im Blickfeld gegenüber der Hafen von Mukran, ein stattliches Fährschiff aus seinen Mauern entlassend. Nachdenklich ließ Adrian den Blick über's Wasser schweifen.
»Kann man denn davon sprechen, dass die Nachhilfeaktivitäten des Westens – wie immer man sie auch beurteilen mag – irgendwann gefruchtet haben?«

»Das glaube ich schon, vernünftige Menschen hatten doch gar keine andere Wahl. Und trotzdem bleibt es nach wie vor ein kleines Wunder, dass sich die Vernunft im ideologisch erstarrten Parteiapparat der Sowjetunion schließlich durchzusetzen vermochte. Spätestens mit der Machtübernahme Gorbatschows – 1985 – war es soweit. Im Bilde gesprochen: Der am Boden liegende, schwer angeschlagene Koloss hatte die Hand gehoben zum Zeichen des Eingeständnisses seiner Niederlage. Ab sofort konnte man miteinander reden, und die Gefahr verzweifelter, unkontrollierter Gegenwehr schien gebannt.«

»Was musste denn am dringlichsten besprochen werden?«

»Vermutlich werden Sicherheitsprobleme im Vordergrund gestanden haben. Wir sollten aber nicht darüber rätseln, was da im Einzelnen zur Sprache gekommen sein könnte; wesentlich ist, dass der Westen auf erheblichen Veränderungen im Osten bestanden haben dürfte.«

»Sie meinen einen Systemwechsel?«

»Letztlich lief's darauf hinaus, aber nun mal schön der Reihe nach. – Für ›einsichtige Kreise‹ um Gorbatschow stand wohl außer Frage, dass – salopp gesagt – der sozialistische Laden nicht funktioniert hatte. Was macht man in solch einem Fall – besonders dann, wenn einem trotz aller bitteren Erfahrung die fehlfunktionierende Einrichtung ans Herz gewachsen war?«

»Man versucht, das Ganze zu reparieren.«

»Genau. Ein tiefschürfender Geist hätte allerdings damals schon entdecken können, dass die Gründe für die Fehlfunktion weniger in der Einrichtung, sondern vielmehr in den Menschen gesucht werden mussten, die mit ihr arbeiteten. Dies lag jedoch außerhalb dessen, was ein sozialistisch geprägtes Gemüt seinerzeit zu erwägen vermochte. Der Reparaturgedanke, der sich selbstredend in Richtung Demokratie und Leistungsstimulierung zu bewegen hatte, entsprach aber nur dem Wunsch des Unterlegenen, die Sieger dürften wohl von Anfang an ins Auge gefasst haben, die untaugliche Einrichtung en bloc zu ersetzen – durch ein Produkt der eigenen Baureihe, versteht sich.«

»Damit meinen Sie den strikten Übergang zu Demokratie und Kapitalismus, und zwar im gesamten Ostblock?«

»Exakt.«

»Das entspräche aber einem Differenzstandpunkt von erheblicher Bedeutung.«

»So könnte man sagen. Wenn beide Seiten sich ihren Zielen nähern wollten, mussten sie sich aufeinander zu bewegen, etwas Anderes schien – trotz der Bilanz des kalten Krieges – ohne vernünftige Perspektive. Der Westen musste sich vorerst mit dem Systemwechsel in den Satellitenstaaten begnügen, da er Gorbatschows Hilfe bei diesem Wechsel brauchte, und Gorbatschow musste eben diese Staaten an den Westen ›verkaufen‹, um im eigenen Land seinen ›Reparatur-Sozialismus‹ betreiben zu können – ein Kuhhandel, der seinesgleichen sucht. Anders gesagt: Der Westen wird Gorbatschow klar gemacht haben, dass ihm ein Reparaturversuch nur unter der Bedingung zugestanden werden konnte, dass er bereit war, einem demokratischen Kapitalismus in den Satellitenstaaten zuzustimmen, das heißt einem System, dem er selbst zu entgehen hoffte. Erwartet wurde dabei nicht nur die Zustimmung schlechthin, sondern darüber hinaus, dass er in einem letzten Akt ›administrativer Fürsorge‹ die Weichen für einen reibungsarmen, sicheren Übergang stellte.«

»Besser hätte der Westen seine Interessen wohl kaum zur Geltung bringen können.«

»Das denke ich auch. Es war ein diplomatisches Meisterstück, durch welches der Systemwechsel im Ostblock unaufhaltsam in Gang gebracht wurde – zum Preise einer Galgenfrist für die ums Überleben kämpfende Sowjetunion. Der Pferdefuß des Unternehmens war, dass die bis dato sozialistischen Brüder schlechterdings dem Kapitalismus ausgeliefert wurden, ohne die gleiche Chance zu bekommen, die ihrem Oberhaupt zugestanden wurde. Allem Anschein nach ließ man Gorbatschow keine andere Wahl, ganz abgesehen davon, dass dem Generalsekretär ohnehin das Hemd näher gelegen haben dürfte als die Hose.«

»Warum brauchte der Westen für die Einführung des Kapitalismus in den Satellitenstaaten unbedingt die Hilfe Gorbatschows?«

»Wenn man sich die Verhältnisse im damaligen Ostblock vor Augen führt, wird sofort klar: Mit der simplen Freigabe der sozialistischen Brüder konnte man das Oberhaupt der ›Bruderschaft‹ nicht davonkommen lassen. Was nämlich, wenn sich die Freigesetzten aus eigener Machtvollkommenheit im realen Sozialismus verkeilten? Oder – fast schlimmer noch –, wenn eigenständige Perestroika-Wünsche auf ihrem Terrain die Oberhand gewönnen? In diesem Falle musste die Zentralgewalt des Oberhauptes, noch ehe es für alle Zeiten abgeschlagen werden sollte, ein letztes Mal in Anspruch genommen werden. Ohne die Hilfe der Sowjets hätte man ›Verhärtungserscheinungen‹ oder sonstigen ›sozialistischen Verirrungen‹ nur schwerlich beikommen können, und der Sieg des Westens im Wettlauf der Systeme wäre nicht das gewesen, was er eigentlich wert war.«

»Und wie sollte die letzte Inanspruchnahme der Zentralgewalt in der Praxis aussehen?«

»In Polen und Ungarn schien die Entwicklung ohnehin in die richtige Richtung zu laufen. Bei allen anderen musste mit Widerständen gerechnet werden. Von den Sowjets wurde erwartet, dass sie versuchten, dieselben auf konspirative Art und Weise zu brechen, das heißt, ohne dabei das gerade erworbene neue Gesicht zu verlieren. – Demokratisierung ist zuweilen ein höchst undemokratisches Geschäft.«

»Und Sie glauben wirklich, dass man den Verlauf der Wende mit einem solchen Kuhhandel erklären kann?«

»Machen wir die Probe aufs Exempel. Warum hätte Gorbatschow – der den Kapitalismus nachweislich nicht liebte – dem Westen bei der Einführung desselben in den Satellitenstaaten behilflich sein sollen, wenn man ihm seine Perestroika auch so gestattet hätte? Und warum hätte der Westen dem Verlierer des kalten Krieges einen ›Reparaturversuch‹ seines unverbesserlichen Sozialismus gestatten sollen, wenn er einen schnellen, gewaltfreien Systemwechsel in den Satellitenstaaten auch ohne Gorbatschows Hilfe hätte durchsetzen können? Interessant für die Beantwortung der letzten Frage ist, dass nach dem erfolgreichen Systemwechsel in den Satellitenstaaten der ›Reparaturversuch‹ ganz schnell beendet wurde, womit die Sowjetunion verschwand und der Westen sein eigentliches Ziel erreicht hatte. – Bemerkenswert ist das schlüssige strategische Prinzip, das bei näherem Hinschauen dem Systemwechsel von 1989/90 zugrunde lag. Und genauso, wie man das selbige im nachhinein entdecken kann, konnte man es auch aus der entstandenen Lage um 1985 ableiten. Für mich jedenfalls ist unvorstellbar, dass die Realpolitiker des Westens diese Chance nicht genutzt haben. Heute wird die Wende vielfach als ›glückliche Fügung‹ und ›Ergebnis sittlicher Bestrebung‹ interpretiert. Das ist ziemlich naiv und allenfalls die halbe Wahrheit. Hier waren erfahrene Strategen am Werke, die ihr Handwerk perfekt verstanden. Sie schufen eine Art ›Drehbuch‹ der Wende, nach dessen sorgfältig abgewogenen Direktiven das historische Spektakel schließlich in Szene gesetzt wurde. Für spontane Improvisationen dürfte da wenig Platz gewesen sein, und der am Ende stehende Erfolg wurde fraglos nicht eine Minute dem Zufall überlassen.«

»Lässt sich Ihre gewagte Theorie an einem praktischen Beispiel festmachen?«

»Gewiss, sogar an einer ganzen Reihe von Beispielen – da kommen wir später noch drauf. Aber eines will ich des besseren Verständnisses wegen vorwegnehmen. Werfen wir einen Blick ins Nachbarland, auf die Verhältnisse in der damaligen ČSSR. Als die Protestentwicklung im Herbst '89 ihrem Höhepunkt zusteuerte, war nicht recht abzusehen, wem das opponierende Volk schließlich das Präsidentenamt in die Hände spielen würde. Zwei Kandidaten kamen in Betracht: Václav Havel, der im eigenen Land nur mäßig populäre Dichter-Dissident, und Alexander Dubček, der halbvergessene, aber im Aufbruch jener Tage zunehmend wiederentdeckte und gefeierte Held des ›Prager Frühlings‹. Wunschkandidat des Westens war zweifelsfrei Václav Havel, welcher der Demokratie in naiver Begeisterung hofierte, wobei ihn der in Kauf zu nehmende Kapitalismus wenig störte. Alexander Dubček aber stand noch immer für den ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹, den ihm das totalitäre System in den vergangenen zwanzig Jahren nicht hatte austreiben können. Ein Mann mit derlei ›Flausen‹ im Kopf wäre als Präsident ein unzumutbares Risiko gewesen, und man erwartete von Gorbatschow, dass er seine einstige Provinz in pflegeleichtem Zustand übergab. Und so geschah es. ›Havel na hrad‹ (Havel auf die Burg) hieß die Parole, mit welcher der ›unsichtbare Zauberer‹ die Mauern Prags plakatieren ließ, um den Machtanspruch seines Schützlings durchzusetzen (auf der Burg residierten die Könige, Generalsekretäre oder Präsidenten). Dazu rekrutierte man noch ein zuverlässiges Völkchen, das die zwingende Losung auf dem Prager Wenzelsplatz intonierte – und schon war, flankiert von ein, zwei weiteren unauffälligen Maßnahmen, der richtige Präsident in Position gebracht, während Alexander Dubček auf den unattraktiven, wenig einflussreichen Posten des Parlamentspräsidenten abgeschoben wurde. Gorbatschow als Erfinder der Perestroika musste seinem erfahrenen Vorgänger Dubček das Handwerk legen und der Tschechoslowakei verwehren, was der Sowjetunion berechnenderweise erlaubt wurde – so hatten es die Sieger des kalten Kriegs beschlossen. Und es war die Ironie des Schicksals, dass die gleichen totalitären Kräfte, die Havel dereinst ins Gefängnis gesteckt hatten, ihn nunmehr – im Dienste einer ›geläuterten Macht‹ – in den Präsidentensattel hoben. Von Havel selbst stammt die Bestätigung, dass das KGB bei seinem Amtsantritt die entscheidenden Fäden gezogen hatte. Alexander Dubček hingegen wurde nach seiner verlorenen Wahl ein zweites Mal ausgeschaltet, als er im Begriffe war, Präsident der mittlerweile separierten Slowakei zu werden. 1992 kam er bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Hochbrisante Dokumente mit sich führend, sollte er wenige Tage später vor dem Moskauer Verfassungsgericht als Zeuge über die Vorgänge des ›Prager Frühlings‹ im Jahre 1968 aussagen. Beide Faktoren – die angestrebte Präsidentschaft und die aufklärende Zeugenaussage – kamen gewissen Kreisen höchst ungelegen, und bis heute konnte das Gerücht nicht ausgeräumt werden, dass man der Vermeidung des Unerwünschten nachgeholfen hatte.«

»Das ist ja unglaublich.«

»In der Tat. – Aber über das eigentliche Glanzstück des mutmaßlichen Drehbuches haben wir ja noch gar nicht gesprochen.«

»Ich hätte nicht geglaubt, dass es da noch eine Steigerung gäbe.«

»O doch, denken Sie mal in Ruhe nach. Genau genommen bestand das Drehbuch aus drei ineinandergreifenden Kapiteln. Das erste betraf die Ingangsetzung der Perestroika im Mutterland des Sozialismus. Das zweite befasste sich mit dem Loslassen der Satellitenstaaten und deren demokratisch-kapitalistischer Ausrichtung. Das dritte Kapitel aber beschrieb das komplizierteste und in gewisser Weise auch heikelste Unternehmen – die Herstellung der deutschen Einheit.«

»Aber die ist doch letztlich erst durch die Maueröffnung möglich geworden.«

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die Initiatoren der Wende die deutsche Einheit erst nach dem Mauerfall ins Auge gefasst haben? Nein – die weitblickenden Drahtzieher hatten gewiss schon Jahre zuvor die Pläne dafür geschmiedet. Und um es vorwegzunehmen: Die Einheit kam nicht zustande, weil das Volk in seinem unbändigen Freiheitsdrang die Mauer niedergerissen hatte, sondern umgedreht wird ein Schuh draus. Man ließ das Volk die Mauer einrennen und in den Westen laufen, um so den Bewusstseinswandel zu erzeugen, der für die demokratische Legitimation der Einheit unumgänglich war.«

»Ich bin gespannt, mit welchen Argumenten Sie das im Einzelnen belegen wollen.«

 

VII

»Ein bisschen müssen Sie sich noch gedulden«, erwiderte Brückner, die verständliche Skepsis Adrians respektierend, »noch sind wir nicht soweit. Zunächst wollen wir uns mit der Notwendigkeit der deutschen Einheit aus der Sicht des Westens befassen. Um die zu beurteilende Situation ins Bild zu bringen, lassen wir das Drehbuch bis zum Ende des zweiten Kapitels ablaufen. Es gäbe dann eine im Ansatz ›umgebaute‹ Sowjetunion, und es gäbe die ehemaligen Satellitenstaaten, in denen der Systemwechsel, das heißt der Übergang zu Demokratie und Kapitalismus, weitestgehend vollzogen, zumindest aber irreversibel eingeleitet wäre. Damit stünden sich zwei demokratische deutsche Staaten gegenüber – ein wohlhabender und einer, der sich am Rande des wirtschaftlichen Ruins befände –, und es existierte kein vernünftiger Grund, den letzteren auf Dauer zu erhalten. Anders gesagt: Wer der DDR einen ›Umbauversuch‹ gemäß dem Vorbild der Sowjetunion verwehrte – für den Westen, wie gesagt, eine Selbstverständlichkeit –, der hatte zwangsläufig die Einheit im Kopf. Und wer die Einheit möglichst profitabel wollte, der musste die ungleichen Partner ohne Verzug in einen gemeinsamen Rechtsstaat überführen, derart, dass der ungesättigte Markt der DDR dem übersättigten Pendant der Bundesrepublik im Handstreich zugeschlagen wurde. Nur so ließen sich im Osten die erhofften Gewinne erzielen, während die dabei zu erwartende wirtschaftliche und soziale Katastrophe voll und ganz der kommunistischen Vergangenheit der Ost-Einwohner angelastet werden konnte. – Zu alldem kam das Sicherheitskalkül der Amerikaner, die in Europa zwei souveräne deutsche Staaten aus verständlichen Gründen nicht haben wollten, im Gegensatz zu Briten und Franzosen, die aber schnell zur Räson gebracht werden konnten.«

»Sehen Sie das ganze nicht etwas zu einseitig? Es sind doch gewaltige Transferleistungen von West nach Ost geflossen.«

»Ich werde niemandem widersprechen, der versucht, Gewinne mit Transferleistungen aufzuwiegen, wenngleich ich seriöse Zahlen für ein solches Unterfangen nicht kenne. Aber wie dem auch sei: Die Transferleistungen des Staates werden bald versiegen, die Gewinne der privaten Wirtschaft hingegen, die aus der Rundumversorgung des Ostens mit Bedarfsgütern des Westens erwachsen, werden noch hundert Jahre lang zu Buche schlagen, denn ich sehe keine Möglichkeit, wie die gewaltige Strukturschwäche des Ostens jemals behoben werden könnte. Letztlich muss sich jeder seinen eigenen Vers auf den zweiseitigen Finanzfluss machen. Während die Stadtkerne im Osten – zur Freude ihrer Bürger – saniert und herausgeputzt wurden, sind die neuen Bundesländer heute weitestgehend das Absatzgebiet der alten, und ihre Arbeitslosigkeit boomt mit ›doppelter Quote‹. – Das ist der Kapitalismus, wie er leibt und lebt, und er gedeiht natürlich am besten, wenn man nicht jedem auf die Nase bindet, wie er in Wahrheit funktioniert.«

»Ich bin beeindruckt, dass Sie's mir verraten haben«, ließ Adrian mit spitzbübischer Miene verlauten.

»Dazu habe ich Sie ja schließlich eingeladen«, erwiderte Brückner lachend. »Also, ich hoffe, dass ich die politische und wirtschaftliche Notwendigkeit der Einheit aus dem Blickwinkel des Westens deutlich machen konnte. Zu allerletzt war sie ein glücklicher Zufall der Geschichte. Wenn die Dinge dennoch so dargestellt werden, dann dürfte Sie das nach meiner Erklärung nicht mehr wundern.«

»Und wie haben die Sowjets damals auf den Wunsch des Westens nach der Einheit reagiert?«

»Während Gorbatschows Unterstützung des Systemwechsels in den Satellitenstaaten durch die Genehmigung der Perestroika erkauft wurde, lagen die Dinge hinsichtlich der deutschen Einheit durchaus anders. Hier hatte die Sowjetunion als Siegermacht des zweiten Weltkrieges noch immer bestimmte Rechte, die nicht einfach übergangen werden konnten. Mit Druck schien da nicht viel zu machen, wenn die bereits erzielte Übereinkunft nicht gefährdet und ein Rückfall in die Verkrampfung des kalten Krieges vermieden werden sollte. Und natürlich wusste Gorbatschow nur allzu gut, welche Trumpfkarte er noch in Händen hielt. Was also macht der clevere Geschäftsmann, um den zähen Verhandlungspartner zu erweichen? Er verbessert seine Position mit ein paar Scheinen. Fast 100 Milliarden DM mussten in Raten auf den Tisch, ehe man Gorbatschow verbindlich dazu bewegen konnte, alles in seiner Macht stehende zu tun, um das Zustandekommen der deutschen Einheit zu gewährleisten.«

»Womit wir wieder beim Geld wären. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann wurde Gorbatschow die Einheit regelrecht abgekauft?«

»Das ist sehr drastisch formuliert, doch letztlich lief es wohl darauf hinaus. – Nun aber zur Schaffung der demokratischen Voraussetzung für den Vereinigungsvorgang. Der ungetrübte Blick auf die Verhältnisse ließ, wie ich meine, bereits im vorhinein erkennen, dass im Zuge des Öffnungsprozesses Kapitalismusorientierung und Einheitsvorbereitung organisch ineinandergreifen mussten. Worum es damals wirklich ging, wird deutlich, wenn man die Sache aus der Perspektive derer betrachtet, mit denen die Einheit veranstaltet werden sollte; ich meine die DDR-Bürger im damaligen Honecker-Staat. Soweit mit ihnen politisch gerechnet werden musste, war von drei unterschiedlichen Gruppen auszugehen: den Ewig-Gestrigen um Honecker und seine Crew, den Perestroika-Fans und Befürwortern eines demokratischen Sozialismus, die – alles in allem – die Mehrheit bildeten, sowie einer verschwindend kleinen Menge, die sich nach dem Kapitalismus bundesdeutscher Prägung und damit nach der Einheit sehnte. Dieses unverträgliche Dreifachpotential sollte möglichst ohne viel Radau und störende Umwege in die Einheit überführt werden. Aus der Sicht von sagen wir 1986/87 ein ungeheures Problem, das ohne die Hilfe Gorbatschows nicht zu lösen war.«

»Da bedurfte es offensichtlich einer perfekten Strategie?«

»So ist es. Die erste Gruppe galt es, durch eine konspirativ angefachte, friedliche Revolution zu entmachten. Dass diese Gruppe die deutsche Einheit kategorisch ablehnen würde, war demokratisch zu verkraften. Doch nun kam das eigentliche Kunststück. In dem gleichen Maße wie die bis dato überwiegende zweite Gruppe in kürzester Zeit dezimiert werden musste, musste die verschwindend kleine dritte Gruppe großgezogen werden, so dass sie als einheit-wollende Mehrheit demokratisch ins Gewicht fallen konnte. Und diese unheimliche Metamorphose sollte nach Möglichkeit ad hoc und ›quasi über Nacht‹ vonstattengehen.«

»Das gibt's doch nur im Märchen.«

»Sollte man meinen, aber es geht auch anders, wie die Geschichte gezeigt hat. – Für die Bewältigung dieser höchst schwierigen Aufgabe hatten die Wendemacher in ihrem Drehbuch weitblickend vorgesorgt. Alles hing letztlich davon ab, wie die deutsche Einheit der großen Menge schmackhaft gemacht werden konnte, da ein solches Ziel mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der ›Wunschliste‹ der friedlichen Revolutionäre nicht obenan stehen würde. Die Lösung des Problems war ebenso einfach wie verblüffend: Bevor man sie befragte, mussten die frischgebackenen Demokraten einer ›kleinen Umlenkung‹ ihres Willens unterzogen werden, derart, dass man sie vom Kuchen kosten ließ, den sie in überheblicher Askese zu verschmähen wagten. Das würde genügen, um die Mehrheit für die Einheitsidee zu begeistern.«

»Ihre Bilder sind wieder mal umwerfend. Trotzdem habe ich gewisse Schwierigkeiten, Ihnen zu folgen.«

»Na dann sagen wir's mal anders. Nach einem spektakulären, euphorisch gefeierten Mauerdurchbruch, bei welchem eine zig-tausendköpfige Menge die Grenze über Nacht paralysierte, konnte damit gerechnet werden, dass die sich in der Bundesrepublik zuhauf umschauenden DDR-Bürger begannen, den Wohlstand des Westens und dessen harte Währung auch für das eigene Land herbeizusehnen. Die ursprüngliche Protestwelle gegen die Diktatur würde umschlagen in eine Sympathiewelle für DM und Vereinigung. Damit wäre der Abbau der innerdeutschen Grenze quasi automatisch legitimiert, und der Assimilation des Ostens durch den Westen stünde nichts mehr im Wege. Unter diesen Umständen bescherten die ersten freien Wahlen eine vereinigungsfreundliche Regierung, die ihrerseits die notwendigen Maßnahmen träfe. Allein schon die entstehenden wirtschaftlichen Zwänge trieben die Entwicklung in die gewünschte Richtung: Absacken des illegalen Umtauschkurses, Ausverkauf der DDR-Wirtschaft, Währungsunion, Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und schließlich – unerlässliche Gegensteuerung durch einen gemeinsamen Rechtsstaat. – Sie sehen also: Wer die Mauer zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Art und Weise fallen ließ, hatte den schnellen Anschluss fast schon in der Tasche. Ein todsicheres Konzept – das ›Sesam öffne dich‹ für die Einheit –, das meine bohrenden Zweifel am glücklichen Zufall des Spektakels immer wieder genährt und erhärtet hat.«

»Und Sie meinen wirklich, dass man das bereits Jahre vor der Wende in dieser Form vorhersehen konnte?«

»Innerhalb der DDR sicher nicht, von außerhalb schon. Am zündenden Impuls für den bergeversetzenden Mauerfall hing die sich wie von selbst abwickelnde Kausalkette, die Ostdeutschland sicher in den Einheitshafen lotsen würde. Wir werden uns noch genauer damit befassen. – Soviel zum Drehbuch der Wende.«

Bei den letzten Worten Brückners, der seine Ansichten im Brustton der Überzeugung referiert hatte, konnte Adrian ein ungläubiges Lächeln nur schwer unterdrücken.
»Sind Sie der einzige, der die Vorgänge auf diese abenteuerliche Weise interpretiert?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Brückner, ohne auf Adrians zweifelnden Gesichtsausdruck zu reagieren. »Für wesentliche Gedanken des Drehbuchs finden sich mitunter aufschlussreiche Passagen in der entsprechenden Literatur. Eine in sich schlüssige, umfassende Darstellung der Wende habe ich aber bislang noch nirgendwo gefunden.«

Nach einer Weile fuhr er fort.
»Noch etwas scheint mir wichtig, und Sie sind der erste, dem ich meine Entdeckung anvertraue. Bereits vor Jahren ist mir eine Analogie im Verlauf der beiden großen Systemwechsel des 20. Jahrhunderts – 1917 und 1989 – aufgefallen, ein Phänomen, das man getrost in den Rang einer entwicklungsspezifischen Gesetzmäßigkeit erheben könnte.«

»Jetzt bin ich aber gespannt.«

»Erinnern Sie sich noch an das, was ich Ihnen am Sassnitzer Bahnhof über Lenin und den bolschewistischen Umsturz in Russland erzählt habe?«

»Ja natürlich.«

»Das, was damals beim Übergang vom Kapitalismus zum realen Sozialismus passiert ist, hat sich auf sehr ähnliche Art und Weise, nur mit vertauschten Rollen beim Übergang vom realen Sozialismus zum Kapitalismus zugetragen. Wer ein Gespür für den gesellschaftlichen Hintergrund historischer Ereignisse besitzt, wird auf die Analogie der kausalen Zusammenhänge aufmerksam und sieht darin möglicherweise mehr als den bloßen Zufall. Wenn Sie den Begriff des Kapitalismus nicht allzu eng auslegen, dann lautet meine Entdeckung etwa wie folgt: 1917 hatte Deutschland das gleichermaßen kapitalistische Russland dem Wechsel zum konträren sozialistischen System preisgegeben, um die eigene Haut zu retten. 1990 hatte umgekehrt die Sowjetunion die gleichermaßen sozialistische DDR dem Wechsel zum konträren kapitalistischen System preisgegeben – ebenfalls um die eigene Haut zu retten. Im letzteren Vorgang liegt wohl die eigentliche sittliche Tragödie, denn Sowjetunion und DDR befanden sich nicht, wie seinerzeit Russland und Deutschland, im Krieg, sondern waren durch einen Freundschaftspakt miteinander verbunden. Ein aus Sicht der Kommunisten ungeheurer Verfall der bis dato hochgehaltenen Ideale internationaler Solidarität, wobei die Not, in der sich Gorbatschow befand, nicht unterschätzt werden darf. – Die nicht vergleichbaren näheren Umstände scheinen mir bei dem Ganzen weniger von Belang. Wesentlich ist der skrupellose Erhaltungswille der Repräsentanten beider Systeme in einer für die Zukunft ihrer Nationen aussichtslos scheinenden Lage.

»Eine erstaunliche Entdeckung«, bestätigte Adrian seinen Meister, »Analogie und Symmetrie der historischen Fakten sind unbestreitbar, und dazwischen liegt – ein Menschenleben.«

 

VIII

Nachdem die beiden Wanderer ein längeres Stück des auf und nieder gehenden Weges schweigend zurückgelegt hatten, war Adrian wieder mit eigenen Gedanken zur Stelle.
»Gibt es eigentlich einen zwingenden Grund dafür, dass die Wende gerade im Herbst 1989 in Gang kam und nicht früher oder später?«

»Sie meinen in der DDR?«

»Genau.«

»Das ist eine gute Frage. Es scheint mir unsinnig, den Startzeitpunkt damit zu begründen, dass das Maß der Unzufriedenheit im Herbst '89 voll war. Es war schon lange voll, und 1989 war es nicht voller als zehn Jahre zuvor. Gleiches gilt für die Repression des totalitären Staates. Man mag sie – dem eigenen Erleben entsprechend – beurteilen wie man will; einen zum Umsturz animierenden Gradienten wird man nicht finden.«

»Und was ist mit dem Wahlbetrug im Mai '89 und dem Massaker der Chinesen auf dem Platz des himmlischen Friedens?«

»Die Bedeutung beider Ereignisse will ich nicht herunterspielen, nur hätten sie niemals die Massen zu Zehntausenden auf die Straße gebracht. Nein – hier waren andere Kräfte am Werke. Die Sieger des kalten Krieges wollten endlich ihren verdienten Lohn. Das Drehbuch der Wende war ›ausgehandelt‹ und perfekt, und der Dirigent des sorgfältig vorbereiteten Spektakels hatte ganz einfach den Stab gehoben. – Genau dort müssen wir ansetzen, wenn wir den operativen Wendevorgang im Einzelnen untersuchen wollen. Aber dieser Strapaze werden wir uns erst morgen aussetzen.«

Mit diesen Worten hatten die Wanderer eine Anhöhe erreicht. Während sie ihren Blick über die ruhige Meeresoberfläche gleiten ließen, versuchte Brückner, seinen Gedanken freien Lauf lassend, das Kardinalproblem der Wende in ein einfaches Bild zu bringen.
»Letztlich hängt alles am ganzheitlichen Blick auf die Gesellschaft. Wer die historische Entwicklung nur auf politische Aktivitäten zurückzuführen sucht, der wird die Wende als weltbewegendes Ereignis niemals schlüssig zu erklären vermögen und wird den Zufall oder die glückliche Fügung zu Hilfe nehmen müssen. Ich kann es nur eindringlich wiederholen: Der eingeschlafene Leistungswille im realen Sozialismus war der primäre Grund dafür, dass die Menschen die gleichverteilende, wettbewerb-ignorierende Diktatur zu gegebener Zeit wieder verlassen mussten und zurück in den offenen Kapitalismus gestoßen wurden – meist ohne einen Finger dafür krumm machen zu müssen. So hat das schließlich im gesamten Riesenreich der Sowjetunion funktioniert, deren totalitärer Staat unter äußerem Druck ›von oben‹ geöffnet wurde. ›Von unten‹ rebellierten nur all jene, die durch die Öffnung in Not gerieten, abgesehen davon, dass sie manch einem auch nicht schnell und nicht weit genug ging. Die Wende in den übrigen Ostblockstaaten muss wohl eher als Ausnahme von der Regel gesehen werden. Die Aufhebung der Diktatur als Ergebnis eines wirtschaftlich bedingten Rückführungszwanges – es wird wohl noch Jahrzehnte dauern, ehe die Gesellschaft zu dieser Selbsterkenntnis fähig ist.«

»Sollte die Unerträglichkeit der Diktatur dabei wirklich keine Rolle gespielt haben? Wenn man bedenkt, wie viele Menschen im GULAG ihr Leben lassen mussten – man spricht von etwa zwanzig Millionen.«

»Ihre Frage ist völlig berechtigt. Es ist unfassbar, wie viel Leid die Menschen zu ertragen vermochten, ohne sich dagegen aufzulehnen. Ein Rätsel, dessen Lösung die subtile Kenntnis der Verhältnisse erfordert. Noch immer zeichnet der Westen das Bild von der sozialistischen Diktatur so, wie er es haben will: Hier der Despot mit seinen ›bösen Lakaien‹, dort das gequälte Volk, auf dessen Seite das Recht und mithin auch die Unschuld standen. So einfach war es aber nicht. Im Unterschied zur kapitalistischen Militärdiktatur agierte der sozialistische Staat – auch in den Augen vieler unzufriedener Bürger – im Dienste des vermeintlich Guten, und eine Gesellschaft ohne die durch ›Kapital und Markt‹ bedingten Übel galt allgemein als erstrebenswert. Die Frage war nur, wo beim Einzelnen das Verständnis für den sozialistisch-totalitären Staat (und damit die Kooperation mit demselben) aufhörte und das Bedürfnis nach Freiheit und Demokratie anfing. Das gesamte Meinungsspektrum war vertreten, von der bedingungslosen Akzeptanz der Diktatur bis hin zu ihrer kompromisslosen Ablehnung, wobei das Ganze einer Art Gauß-Verteilung glich. Das heißt: Ein gewisses Maß an Totalität war für die meisten durchaus tolerabel, weil sie spürten, dass die ›nur halbgeglückte‹, aber letztlich ›gutgemeinte‹ Sache darauf ruhte. Für den Demokraten des Westens eine fremde, intolerable Denkungsart, die nur in einer geschlossenen Gesellschaft gedeihen konnte. – Jedenfalls hatte unter diesen Umständen eine auf Öffnung drängende Opposition nur wenig Aussicht auf Erfolg, und die Abschaffung des kompletten Systems war
a priori kein Thema. Ich bin mir sicher: Eine sozialistische Diktatur, sofern sie sich einmal etablieren konnte, war resistent gegen jedwede Umsturzversuche von innen und ließ sich nur durch nachhaltigen Druck von außen beenden.«

»Das war dann wohl aber auch dringend nötig, oder – könnte es sein, dass Sie die historische Entwicklung ein Stück weit bedauern?«, bemerkte Adrian mit ironischem Unterton.

Ob dieser Frage musste Brückner unwillkürlich lächeln.
»In diese Ecke kriegen Sie mich nicht. Es war eine längst überfällige, unumgängliche Entwicklung, denn sie steuerte konsequent auf das notwendige kleinere Übel. Das kann ich nur mit Erleichterung und Dankbarkeit quittieren – ich bestehe aber auf dem kleineren Übel, und mein Jubel hält sich in Grenzen.«

Müde und ein wenig abgekämpft hatten die Männer schließlich die Seebrücke in Binz erreicht. Fast fünf Stunden waren sie unterwegs gewesen auf einer Strecke, für die man normalerweise weit weniger als die halbe Zeit benötigt, vorausgesetzt man läuft – ohne viel dabei zu reden. Nach einem beschaulichen Bummel durch das belebte Seebad fuhren sie mit der Kleinbahn wieder zurück nach Sellin. Stillschweigend hatten beide beschlossen, für den Rest des Tages kein Wort mehr über die Wende zu verlieren.

Am Abend besuchten sie ein Konzert. Zwei junge Menschen aus
St. Petersburg, ein Pärchen oder Ehepaar: Klarinette und Klavier – quer durch alle Stilepochen. Es war wunderbar, so wie eben nur die Russen spielen können. Brückner war sich mit Adrian einig: Deutschland und Russland verbindet weit mehr als nur der Wechsel ihrer politischen Systeme.

 

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© 2008 Christian Sichler