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Die Wende 1989/90 – unbequeme Fragen nach dem sozialen Fortschritt

Über Freiheit, Gewalt und politische Systeme sowie die soziale Frage im 21. Jahrhundert

 

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Dieser Essay wurde bereits 1999 – zehn Jahre nach der Wende – geschrieben und besitzt noch immer volle Gültigkeit. Mehr noch: in Zeiten weltweiter Rezession und Ausweglosigkeit scheint er mit jedem Tage gültiger. Mittlerweile ist ein ganzes Buch daraus geworden – ein Angebot für Menschen, die nach tieferen Zusammenhängen suchen.
Eines hat meine Arbeit in den vergangenen zehn Jahren zweifelsfrei bestätigt: Nur im Lichte eines lebensnahen, umfassenden Systemvergleiches (vor der Wende / nach der Wende) können letztlich die Ideen und Impulse reifen, die einer Lösung der sozialen Frage wirklich dienlich sind. Doch lesen Sie selbst.

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zur Einführung in den Essay

Vor zehn Jahren wurde im Osten der totalitäre Staat entmachtet und die freiheitlich-demokratische Grundordnung errichtet. Ein Fortschritt? Ohne Zweifel! Doch wie ist er zu bewerten, und was bleibt von ihm übrig, wenn man das gesamte gesellschaftliche Leben – nicht nur dessen staatlich-politische Komponente – einer gründlichen Prüfung unterzieht?

Ein besonnener Mann, im Herbst '89 einer der Moderatoren am Zentralen Runden Tisch in Berlin, äußerte sich damals angesichts der schwer durchschaubaren, illusionsverhangenen Entwicklung folgendermaßen (Zitat sinngemäß): Die Gesellschaft gleicht vielfach einem Häftling, der mit voller Kraft seinen Ausbruch betreibt, ohne erkennen zu können, dass er in der Nebenzelle landet (Zitatende).

Zehn Jahre danach hat dieses Gleichnis nichts von seiner Überzeugungskraft verloren. Gleichwohl bleibt verständlich, wenn sich Politiker und Journalisten im Rahmen öffentlich-feierlicher Rückbesinnung lieber der »Erfolgsstory« vom grandiosen Ausbruch in die Freiheit bedienen, ohne dabei die »Örtlichkeiten« näher unter die Lupe zu nehmen. Wer aber die Frage nach dem objektiven gesellschaftlichen Fortschritt stellt, der kommt nicht umhin, beides unter einen Hut zu bringen.

Viel zu früh, um tiefschürfend Bilanz zu ziehen, sagen die einen, man hätte die Bilanz längst ziehen können, behaupten die anderen und verweisen dabei auf das kaum zu übersehende Desinteresse der öffentlichen Meinung an umfassender Aufklärung und Erforschung des Wendevorgangs. Nach nunmehr zehn Jahren darf gefragt werden: Was hat eigentlich die Wissenschaft bisher geleistet, um das in der Geschichte einmalige Phänomen der Wende im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts zu erhellen und zukunftsweisend zu interpretieren? – Abgesehen von einer Riesenmenge Umfragen, die das Wesentliche im Dunkeln lassen: wenig bis nichts.

Nach wie vor wird die sozialistische Epoche schlechtweg als Fehltritt gehandelt, ein peinlicher Irrtum eben mit teilweise katastrophalen Folgen. Im Osten aber war ein Jahrzehnte währendes soziales Experiment unter dramatischen Umständen schließlich gescheitert – ein Experiment, dessen grundlegende Zusammenhänge mit Blick auf die ungelösten Probleme der offenen Gesellschaft gründlich erforscht werden sollten, anstatt den Fehltritt einfach nur mit Bedauern aus dem Bewusstsein zu streichen. Hier Freiheit und Recht, dort Diktatur und ideologische Willkür – gewiss, das ist die Wahrheit, aber eben nur die halbe. Erweitern wir also das Kalkül, indem wir den »Sprung in die Freiheit« durch den umfassenderen Begriff des Systemwechsels ersetzen.

Dass die Menschen im Herbst '89 einen Systemwechsel – gemeint ist der einfache Austausch der Oststrukturen gegen die Weststrukturen – nicht gewollt haben, steht außer Frage, denn wer solches ersehnte, war in der Regel nicht geblieben und hatte sich seinen Wunsch bereits erfüllt. Darüber zu reden ist heute eher peinlich, da die meisten Wettbewerber des Ostens ihren harterkämpften wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder sonstigen Marktwert nicht gern mit ihren gescheiterten Illusionen in Zusammenhang gebracht wissen wollen. Dessen ungeachtet hatten damals, im Herbst '89, nur wenige eine klare Sicht auf die abgelebten Verhältnisse – viele hingegen wollten einfach »das Gute aus dem Osten« mit »dem Guten aus dem Westen« verbinden, und dieses Wollen gipfelte in der Begeisterung für eine neue Gesellschaftsordnung, die als demokratischer Sozialismus bezeichnet wurde (wobei jeder seinen eigenen kreierte). Doch es war ein trügerisches Ideal, das damals die Menschen wochenlang faszinierte, ein Wunschbild, für dessen Realisierung ebenso ideale, d. h. gemeinnützig handelnde Menschen notwendig gewesen wären.

Im Osten aber lebten ganz normale Menschen, deren ganz normaler Egoismus nicht veredelt, sondern durch den totalitären Staat nur gedämpft worden war. Kaum einer, dem es gelang, in jener von kollektiver Illusion geschwängerten Zeit zu einer solchen Einsicht vorzudringen. Auch heute – zehn Jahre danach – scheint noch immer nicht recht klar, dass eben diese ganz normalen Menschen mit »ausgeschaltetem Privatbesitz« und »gleichgeschalteten Einkommen« das notwendige Sozialprodukt nicht erzeugen konnten und dass ohne staatlichen Zwang die Gesellschaft wie von selbst in skrupelloses Konkurrenzverhalten zurückfallen musste.

Unbeeindruckt von den irrealen Wünschen des Ostens verordneten die Sieger im Wettlauf der Systeme den Besiegten schließlich den schlichten Systemwechsel.* Betrachtet man aus heutiger Sicht die historischen Tatsachen, so scheinen sie – alle spekulativen Entwürfe von damals widerlegend – in gewisser Weise doppelt gedeckt: Niemals hätten die Sieger den Besiegten eine qualifiziertere Gesellschaftsordnung zugebilligt als die ihre, denn sie selbst waren im Besitz der sittlich am höchsten stehenden Ordnung (welch maßlose Arroganz), die Besiegten hingegen waren zu nichts anderem fähig, als sich die Kopie des Westens einfach aufdrücken zu lassen, ein Faktum, das sie seinerzeit nicht gelten lassen wollten (welch peinlich-naive Selbstüberschätzung).

* Kraft ihrer Verfügungsgewalt über die Relikte des kalten Krieges öffneten die Sieger unerkannt die Grenze, so dass bei den Besiegten nach der »genüsslichen Inspektion« des Westens schnell das Verlangen nach bundesdeutschem Wohlstand dominierte – die Voraussetzung für die demokratische Realisierung des Wechsels.

Ein nach den Antrieben und Ursachen des gesellschaftlichen Lebens forschendes Ost-Gemüt hat mit der blinden Vergötterung der Freiheit so seine Schwierigkeiten. Gemeint ist die einfache Garantie des ungezwungenen Verhaltens ohne Verantwortung für die sozialen Ergebnisse desselben. Im Erleben einer solchen Weltanschauung steht der sozial engagierte, die Verhältnisse gründlich reflektierende Mensch vor einem scheinbar unauflösbaren Widerspruch: Freiheit muss – besonders nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – als unantastbarer, uneingeschränkter Wert begriffen werden, die ganze Zukunft der Menschheit ruht wesentlich auf dieser Einsicht. Sieht man jedoch, was die Menschen im praktischen Leben daraus machen, und dringt ins Bewusstsein, dass das ganze lebensvergiftende Übel des Kapitalismus überhaupt erst durch die Freiheit möglich wird, dann liegt die Versuchung nahe, gewisse Relativierungen der Freiheit für gerechtfertigt zu halten. Besonders problematisch erscheint dabei die Tatsache, dass gerade die charakterlich schwachen Menschen – es sind nicht wenige! – durch den Wettbewerb gedemütigt und durch die fragwürdig-suggestiven Angebote des Marktes (Unterhaltungsindustrie, Medien) in ihrem sozialen Wollen immer wieder korrumpiert und zurückgeworfen werden. – Im Spannungsfeld eines solchen Widerspruchs wachsen unaufhörlich produktive Zweifel, die schließlich verhindern, dass der Zweifler weder in blinder Freiheitsvergötterung erstarrt noch dem sozial begründeten Hang zur Freiheitsbeschränkung leichtgläubig verfällt. Die Freiheit ist ein unteilbarer Wert, und es ist ein folgenschwerer Irrtum zu meinen, man könne unmoralisches (sprich unsoziales) Verhalten durch Zwang beschränken, ohne das moralische dabei mit zu behindern. Andererseits gilt aber auch: Freiheit zu beanspruchen ist das eine, sich ihrer würdig zu erweisen ein anderes. Das eine kann aber vom anderen nicht getrennt werden, wenn die Freiheit als sittlicher Wert nicht in Frage gestellt werden soll.

Man muss das in einer Gesellschaft sich auslebende seelische und körperliche Gewaltpotential zu erfassen suchen, um den lebensbestimmenden Freiheitscharakter des jeweiligen Systems beurteilen zu können. Da die tiefer greifende Darstellung eines solchen Sachverhaltes den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würde, soll im Folgenden versucht werden, die Gewaltentwicklung sowohl im offenen als auch im geschlossenen System durch ein Gleichnis ins Bild zu bringen.

Ein Vater hatte sieben rauflustige Söhne. Jeden Tag stellte er ihnen einen Topf mit Suppe ins Zimmer und erklärte, wenn alle – die großen wie die kleinen – nur soviel nähmen wie sie brauchten, dann würden auch alle satt werden. Doch nichts dergleichen geschah. Die Starken fielen über die Schwachen her und hinderten sie am Essen, doch auch die Schwachen, wenn sie tatsächlich einmal zum Topf vordrangen, waren im Grunde nicht besser und verfuhren untereinander nach dem gleichen Prinzip. Irgendwer blieb immer hungrig, während andere sich regelmäßig überfraßen. Auch strenge Ermahnungen halfen da nicht weiter. Schließlich wusste sich der Vater keinen anderen Rat und begann, mit drakonischen Maßnahmen durchzugreifen. Jeden Tag vor dem Essen verprügelte er alle Söhne der Reihe nach, solange bis sie jedwede Lust an aggressiver Durchsetzung verloren hatten. Dann stellte er den Topf ins Zimmer mit der strengen Weisung für alle, sich je eine Kelle Suppe daraus zu schöpfen. Das schien zu funktionieren. Schließlich konnte der Vater die Prügel weglassen, allein die bloße Androhung derselben gewährleistete den ruhigen Verlauf der Gleichverteilung. Keiner hungerte mehr, und keiner überfraß sich – irgendwie lebten allesamt gesünder. Und wenn die Herren Söhne von Zeit zu Zeit mal wieder übermütig wurden und in alte Gewohnheiten verfielen? – eine kleine Tracht Prügel brachte die Sache schnell wieder in Ordnung. Eines Tages schickten wachsame Bürger dem Vater das Jugendamt ins Haus. Man machte ihm seine mittelalterlichen Methoden zum Vorwurf, und als er nicht davon ablassen wollte, wurde ihm kurzerhand das Erziehungsrecht entzogen. Ergebnis: Sobald die Gewalt des Vaters weggefallen war, fielen die Söhne wieder übereinander her und suchten sich ihrerseits mit Gewalt den Zugriff auf den Topf zu sichern. Die »wachsamen Bürger« aber, die die »armen Söhne« von der Tyrannei ihres überforderten Vaters befreit hatten, schauten dem Treiben hilflos zu und bemühten nunmehr die gleichen nutzlosen Ermahnungen, mit denen der Vater zuvor gescheitert war.

Nach diesen mehr tastenden, die Problemstrukturen auflockernden Überlegungen wird deutlich: Wer ernsthaft und unbeirrt die Frage nach dem mit der Wende erzielten gesellschaftlichen Fortschritt stellt, kommt an einem das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit erfassenden Systemvergleich nicht vorbei. Ein aussagefähiges Ergebnis wird sich aber nur dann einstellen, wenn es gelingt, eine diese Gesamtheit notwendig und hinreichend erfassende Vergleichsstruktur zu finden. Die folgende scheint zum Ziel zu führen:

  • Leistungsvergleich (objektive Beurteilung möglich)
  • sozialer Vergleich (Dominanz des subjektiven Erlebens erschwert bzw. verhindert die objektive Beurteilung)
  • entwicklungsspezifischer Vergleich (objektive Beurteilung möglich)

Der Leistungsvergleich (namentlich auf wirtschaftlichem Feld) muss hier wohl kaum vorgeführt werden. Die krasse Unterlegenheit des geschlossenen Systems kann noch immer an den Hinterlassenschaften des realen Sozialismus nachgeprüft werden und dürfte jedermann überzeugen. Die »erste Runde« geht also ohne jeden Zweifel an das offene System und dessen leistungsermöglichende Freiheitsstruktur.

Problematischer und vielfach umstritten ist der soziale Vergleich. Immer wieder ist er Anlass für aufgeregte Diskussionen, die nicht selten im Eklat enden und dem Zusammenwachsen des nationalen Bewusstseins empfindlich schaden. Damit die Aussagekraft des Vergleichs nicht von vornherein in Frage gestellt wird, scheint es notwendig, einen Irrtum aufzuklären. Nicht selten erwecken emphatische Redner bei ihren Zuhörern den Eindruck, die Bildung eines sozialistisch-totalitären Staates sei mit der Installation einer kapitalistischen Bananendiktatur identisch. Gewiss – der sozialistische Staat war in bestimmten Punkten nicht besser, aber seine soziale Grundstruktur muss gänzlich anders beurteilt werden. Wer hier der oberflächlichen Bildung prominenter Freiheitsprediger erliegt, der übersieht, dass bei der Errichtung einer sozialistischen Diktatur, deren Gewaltpotential nicht zusätzlich, sondern quasi durch »innere Verschiebung« entsteht. Das Potential des offenen Systems wird sozusagen von der privatunternehmerischen auf die staatliche Ebene verschoben, was nichts anderes bedeutet als die Schließung des Systems. Während die Gewalt auf der ersteren Ebene verschwindet, zumindest aber deutlich eingeschränkt wird, taucht sie auf der letzteren mit voller Wucht wieder auf. Beim Öffnen des Systems erfolgt das Ganze in umgekehrter Richtung.

Mit Blick auf die konkrete Vergangenheit heißt das: Zwei Dinge – so das marxistische Weltverbesserungskonzept – sollten ein für alle Mal aus der Gesellschaft verschwinden: das Privateigentum am Kapital (Produktionsmittel) und die Verkäuflichkeit der menschlichen Arbeitskraft. In der Praxis bedeutete das nichts anderes als Abschaffung von Markt und Wettbewerb und Einführung einer alles erfassenden Gleichverteilung, und hauptsächlich zu diesem Zwecke musste eine Diktatur errichtet und aufrechterhalten werden. Dass bei einem solchen Gewaltverschiebungsprozess das Leistungsvermögen der Gesellschaft stillschweigend mitverschoben oder besser »aus dem System herausgeschoben« wurde, war der Pferdefuß des Unternehmens, der die »Verbesserung« schließlich zum Scheitern brachte. (Das o. a. Gleichnis veranschaulicht den Verschiebungsvorgang in beiden Richtungen.) Bei der kapitalistischen Militärdiktatur hingegen bleibt die Gewalt auf der privatunternehmerischen Ebene erhalten (der Wettbewerb – sprich Kampf ums Dasein – wird nicht unterbunden), und auf der staatlichen kommt eine weitere hinzu. Zumindest gilt das im Prinzip.

Dass viele Menschen im Osten – besonders jene, die aus dem totalitären (gleichverteilenden) Staat in den unteren Bereich der demokratischen
2/3-Gesellschaft versetzt wurden – mit der Wende nur eine Verschiebung des gesellschaftlichen Übels erlebten, wird im öffentlichen Bewusstsein des Westens kaum reflektiert. Und so hält sich dort mancherorts noch immer die realitätsferne Vorstellung, dass nach dem Verschwinden der »fürchterlichen Diktatur« den Geschundenen im Osten das »gewaltfreie Paradies« beschert worden war, also ein Tatbestand, den die Menschen dort allein mit Freude und Dankbarkeit zu quittieren gehabt hätten. Dieses nach wie vor von den Medien bevorzugte Bild, dessen partielle Berechtigung nicht bestritten werden soll, stößt in seiner unsensiblen Verallgemeinerung bei den Betroffenen auf Unverständnis, und einfache Menschen geraten leicht in Zorn, wenn sie das mit der Freiheit eingezogene Übel einem »gebürtigen Demokraten« nicht überzeugend vermitteln können.

Damit steht dem Vergleich nichts mehr im Wege, und es kann versucht werden, ihn auf die Beine zu stellen. Dabei gilt es, die existenzbestimmenden Faktoren in beiden Systemen zu ermitteln und ins Verhältnis zu setzen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier geht es nicht darum, aus politischer, wissenschaftlicher oder sonstiger Sicht die Freiheit als Wert zu beurteilen, sondern einzig und allein darum, die soziale Befindlichkeit der Menschen im freien und unfreien System zu untersuchen. Nur wenn es gelingt, das ethisch begründete Engagement für die Freiheit aus dem sozialen Vergleich herauszuhalten, bleibt er aussagefähig. Um die existenzbestimmenden Faktoren aus ihrem maskierenden Kontext herauszulösen, sollen die folgenden, empirisch gewonnenen Axiome betrachtet werden:

offene Gesellschaft
Auf die soziale Lage der Menschen hat die Freiheit als selbstverständliche Abwesenheit diktatorischer Zwänge keinen Einfluss – existentiell entscheidend ist die Position im Wettbewerb.

geschlossene Gesellschaft
Auf die soziale Lage der Menschen hatte der Sozialismus als selbstverständliche Abwesenheit der Wettbewerbsmisere keinen Einfluss – existentiell entscheidend war die Funktion im totalitären Staat (zumindest konnte keiner durch Leistung allein seine sozialen Verhältnisse bestimmen).

Anders ausgedrückt: Kein Mensch kümmert sich im Erwerbsleben des Westens um Freiheit und Demokratie – Tag und Nacht aber ringen Unternehmer, Angestellte, Arbeiter, Künstler, Wissenschaftler und Politiker um ihren lebensnotwendigen Marktwert. Analog dazu gilt: Kein Mensch kümmerte sich im Erwerbsleben des Ostens um den Sozialismus (als die »bessere« Gesellschaftsordnung) – unumgänglich aber war für alle in der Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat der ständige Nachweis bzw. die dynamische Anpassung ihres lebensnotwendigen Funktionswertes. (Gemeint ist die Wertschätzung des Staates für die gezeigte politisch-ideologische Benutzbarkeit – eine »Bezahlung«, die durch den genehmigten sozialen Status zum Ausdruck gebracht wurde. Jeder war ein »Funktionär«, und sei er noch so winzig und unscheinbar gewesen. Wer seinen Funktionswert gänzlich verlor oder aus eigenem Antrieb unterdrückte, hatte als untragbares Risiko seine Existenz verspielt.)

Nur wenn diese Grundsätze im Kern akzeptiert werden, scheint es sinnvoll, die existenzbestimmenden Faktoren der offenen Gesellschaft (als Wettbewerbssystem in Erscheinung tretend) mit denen der geschlossenen (als totalitärer Staat in Erscheinung tretend) zu vergleichen, ja mehr noch: Nur wenn man erkennt, dass sich beide Faktorenkomplexe gegenseitig ausschließen, kommt man den Dingen wirklich auf den Grund. Die meisten am Wohl und Wehe der Gesellschaft interessierten Menschen können sich heute ein durchaus realistisches Bild vom totalitären Staat als solchem machen. Zehn Jahre nach seinem Untergang türmen sich Forschungsergebnisse sowie dementsprechende Veröffentlichungen bereits ins Unermessliche. Die freie Welt hat ein ausgeprägtes Interesse an der Beleuchtung des »bösen Regimes« mit all seinen finsteren Winkeln. Damit ist klar, was der Osten seinerzeit hatte. Unklar hingegen bleibt, was er gerade in Auswirkung der totalitären (konkurrenz-unterdrückenden) Strukturen nicht hatte, was es im Spannungsfeld derselben einfach nicht gab. Hinsichtlich der hier in Frage kommenden unsozialen Tatbestände hält sich das Interesse der freien Welt natürlich in Grenzen, doch nur wenn ins Auge gefasst wird, dass eben diese Tatbestände nach dem Verschwinden der Diktatur im Osten Einzug hielten und mit Vehemenz zur Geltung kamen, kann nachvollzogen werden, was ein Großteil der Menschen dort als lebensprägenden Systemwechsel erlebt hat.

Dass es seinerzeit im Osten »das Böse« gab – den totalitären Staat mit allen nur erdenklichen Übeln –, weiß heute jedes Kind. Das Böse, das es in dieser Gesellschaft nicht gab – im Gegensatz zum freien Westen! –, wird im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit und definitiven Charakter aufgelistet; in der Regel wird der heikle Sachverhalt an Schulen und Universitäten nicht gelehrt.

Es gab keine Arbeitslosen, keine Obdachlosen und keine Bettler – darüber hinaus keine Banküberfälle (mittlerweile kaum noch vorstellbar!) / keinen Rauschgifthandel und damit auch nicht die daraus resultierende Beschaffungskriminalität (Wer Kinder im halbwüchsigen Alter hat, der weiß, was das bedeutet!) / keine Terroranschläge / keine organisierte Kriminalität / keine Gefängnisausbrüche mit Geiselnahme / keine Kindesentführungen / keine Lebensmittel vergiftenden Kaufhauserpresser / keinen offen zur Schau gestellten Rechtsradikalismus / keinen Raubüberfall am hellichten Tage und keine Schießerei in der Straßenbahn / keinen beim Friseurgang entwichenen Doppelmörder (der wochenlang ein ganzes Land verunsichert) / kein Mobbing am Arbeitsplatz / keine durch Erfolgszwang verursachten Arbeitsunfälle (Wie viele Menschen müssen heute aus diesem Grund ihr Leben lassen?) / kein Feuer, um die lästige Konkurrenz auszuschalten (Im Sozialismus wurde nur ein Zehntel der Brände gelegt, die die freie Welt regelmäßig erschrecken!) / kein häufiges Verschwinden von Menschen (Keiner hatte Sorge, dass seine Angehörigen auf dem Weg in die Schule oder zur Arbeit verschwanden.) / keine Kinder- und Jugendprostitution nebst pornografischem Missbrauch / usw. usw. – die Reihe ließe sich mühelos verlängern.

Natürlich lassen sich zu diesen pauschalen Feststellungen bei umfassendem Einblick in die Verhältnisse die entsprechenden Ausnahmen finden, die Regel aber wird schwerlich außer Kraft zu setzen sein. In einem System, das Markt und Wettbewerb per Definition unterband, fehlte eben auch die kriminelle Verlängerung der Konkurrenz, ganz abgesehen von der permanenten Drohgebärde des totalitären Staates, die jedwede, das sozialistische Gemeinwesen schädigende Aktivität dämpfte oder gar unmöglich machte. Dabei konnte die dämpfende Wirkung vielfach nur zustande kommen, weil der totalitäre Staat nach der Devise verfuhr: Wir nehmen dich erst mal mit; wenn du unschuldig bist, musst du das später beweisen. Der demokratische Rechtsstaat hingegen verfährt nach dem umgekehrten Prinzip; er muss dem Täter die Schuld beweisen, ehe er ihn »mitnehmen« kann. Dass viele Menschen im Osten – besonders die, die sich mit dem System nie angelegt hatten – den Rechtsstaat nach der Wende als ausgesprochen schwach erleben, ist bei Kenntnis dieser Zusammenhänge kaum verwunderlich.

Nun darf bei einer derart provokanten Rückbesinnung nicht vergessen werden, dass der totalitäre Staat ursprünglich nicht installiert wurde, um die kriminellen Umtriebe der Gesellschaft in Schach zu halten. Seine primäre Aufgabe bestand darin, die Grundlagen des sozialistischen Systems – das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln sowie die Unverkäuflichkeit der menschlichen Arbeitskraft (nichts anderes als die Unterdrückung von Kapital und Markt) – gegen jedwede »Aufweichungsaktivitäten« zu verteidigen und zwar mit allen Mitteln. Bei der Durchsetzung dieser irrigen, folgenschweren Auffassung kam quasi automatisch der »positive Unterdrückungseffekt« zustande. Doch der Preis dafür war zweifellos zu hoch!

Ein Phänomen, welches die existenzbestimmenden Faktoren beider Systeme in aufschlussreicher Weise beleuchtet und grundsätzlich auch mit dem positiven Unterdrückungseffekt erklärt werden muss, ist die Geburtenentwicklung als »Sprungantwort« auf den Systemwechsel – ein eher peinliches Paradoxon, dessen nüchterner Untersuchung in der Regel aus dem Wege gegangen wird. Hier hatte die Volksseele – souverän und unverhohlen – auf die »Sitten« des neuen Systems reagiert, derart, dass nach der Wende die Geburtenrate im Osten auf zwei Drittel ihrer bisherigen Höhe zusammenbrach (1995 war es vorübergehend die Hälfte!), was nun wahrlich nicht als Freude und Begeisterung über die erlangte Freiheit ausgelegt werden kann. Ein so nicht erwarteter Kampf ums Dasein und in seinem Gefolge Existenzangst und Verunsicherung hatten mit der Freiheit Einzug gehalten und damit auch das traurige Verweigerungsgebaren westlicher Hochkulturen, sich im Turbokapitalismus nicht mehr »arterhaltend« fortpflanzen zu wollen. Ein solches Verhalten kannten die Menschen im realen Sozialismus nicht – trotz aller Übel des totalitären Staates. Jedwede theoretische Fortschrittsermittlung (Umfragen, wissenschaftliche Studien und dgl.) wird durch diese praktische Konsequenz relativiert, denn – während die erstere gegen Irrtümer und Schönfärberei nicht gefeit ist, ist die letztere per se darüber erhaben. Was Menschen sagen oder schreiben, ist das eine – was sie tun, ein anderes.

Abschließend seien die extremen Ränder des die Gesamtheit der Vergleichsergebnisse repräsentierenden Spektrums zitiert: Ein ehemals politisch Verfolgter oder Gefangener wird das offene System bedingungslos preisen, besonders dann, wenn er nach der Wende eine befriedigende Existenz in ihm begründen konnte. Ein 55-jähriger Arbeitsloser hingegen, der mit dem sozialistischen Staat nie in Konflikt geraten war, wird – den sozialen Abstieg und die Zerrüttung seiner Existenz vor Augen – gezwungenermaßen an die »Vorzüge« des geschlossenen Systems erinnert und geneigt sein, dessen totalitäres Übel zu bagatellisieren. (Die Arbeitslosenquote im Bereich der 50 bis 65-Jährigen liegt im Osten über 50%!) Die Bemühung des Autors um eine integrierende, allgemeingültige Aussage des Vergleichs ergibt: Unterm Strich kommt die soziale Qualität des geschlossenen Systems der des offenen nahe, sofern eine Bilanz der existenzbestimmenden Faktoren ins Kalkül gezogen wird. Die Sorge um die Erhaltung des Funktionswertes in der Unfreiheit (existenzbestimmende Benutzbarkeit) wird durch die Sorge um die Erhaltung des Marktwertes in der Freiheit (existenzbestimmende Wettbewerbsfähigkeit) weitgehend aufgewogen. 1990 waren die meisten Menschen im Osten froh, ihren elenden Funktionswert endlich losgeworden zu sein. Einen Marktwert besaßen sie noch nicht, und nur wenigen war klar, wie schwer es sein würde, einen solchen zu erwerben und zu erhalten.

Die »zweite Runde« des differenzierten Systemvergleichs zeigt somit keinen strahlenden Sieger, da nicht nur die sozialistische Diktatur, sondern auch der in Freiheit praktizierte Wettbewerb die Gesellschaft in ihrer sozialen Befindlichkeit erheblich belastet.

Damit können wir die schwankenden Bretter des sozialen Vergleichs verlassen und uns der dritten Komponente, dem entwicklungsspezifischen Vergleich zuwenden. Hier liegen die Dinge klar auf der Hand. Die Freiheit der Gesellschaft, über ihre Probleme öffentlich nachzudenken, aus diesem Nachdenken Konsequenzen zu ziehen und Perspektiven zu eröffnen, diese Freiheit gewährt allein das offene System, und sie ist in der Tat so wertvoll, dass ihre unsozialen Erscheinungsformen – vorübergehend und in Grenzen – ertragen werden müssen. Hier nun kann endlich das gesamte Potential von Wissenschaft, Kunst und Religion geltend gemacht werden, deren Wirken untrennbar an die Freiheit gebunden ist. Die uneingeschränkte Möglichkeit der Gesellschaft, sich aus der augenblicklichen Misere heraus auf ein sittliches Ziel hinbewegen zu können, diese Möglichkeit macht die Freiheit über jeden Zweifel erhaben, und jede Alternative muss schließlich als zu kurz gegriffen verworfen werden.

Anders gesagt: Die Freiheit ist das Tor zu zwei sich widersprechenden Verhaltensweisen. Zum einen können sich die Menschen dem Durchsetzungsverhalten des Wettbewerbs ergeben und es mit eindämmenden Regeln bewenden lassen. Zum anderen können sie sich aber auch um Verhaltensentwürfe bemühen, die den Wettbewerb und dessen soziale Destruktivität nicht integrieren und dennoch die Offenheit der Gesellschaft unangetastet lassen – im Grundsatz jedenfalls ist diese Möglichkeit gegeben. In der »das Gute« erzwingenden Diktatur hingegen bleibt das besagte Tor verschlossen – ein seinen Irrtum heiligsprechendes System, ohne Zukunft, mit erstarrten Strukturen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, unfähig, sich aus dieser Lage jemals wieder zu befreien. (Nur weil mit einem drastischen Leistungsschwund verbunden, konnte der Irrtum am Ende – mehr von außen als von innen – korrigiert werden. Erst die Niederlage im Wettlauf der Systeme hat die Öffnung der geschlossenen Gesellschaft erzwungen.)

Die »dritte Runde« des differenzierten Systemvergleichs geht damit ohne jeden Zweifel an das offene System mit seiner für die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft unverzichtbaren freiheitlich-demokratischen Struktur.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Während die unabdingbare Notwendigkeit der Freiheit allein aus dem sozialen Vergleich kaum überzeugend abgeleitet werden kann (zu viele bleiben in der Freiheit auf der Strecke!), lässt der Leistungsvergleich auf der einen und der entwicklungsspezifische Vergleich auf der anderen Seite nicht den geringsten Zweifel daran, dass mit dem Übergang zum freiheitlich-offenen System ein wesentlicher, unverzichtbarer Fortschritt erreicht wurde. Auch wenn lebenswichtige Probleme nach wie vor ungelöst bleiben, so ist doch mit Blick auf das 21. Jahrhundert die entscheidende Weichenstellung erfolgt: Die Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft konnte auf überzeugende Art und Weise reaktiviert werden. Dies bedeutet u. a., dass die Gesellschaft, wenn sie denn wollte, die Qualifizierung ihrer sozialen Verhältnisse in Angriff nehmen könnte – eine Möglichkeit, die sie im geschlossenen System nicht hatte und die sie im offenen aufgrund lähmender Vorurteile und mangelnder Erkenntnis nicht zu nutzen vermag.

Wie der Ansatz zu einer solchen Qualifizierung aussehen könnte oder besser welche Gedanken – zehn Jahre nach der Wende – dazu entwickelt werden können, soll im Folgenden skizziert werden.

Nach wie vor scheinen die Menschen zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus nicht fähig – die, die ihn gehasst haben ebensowenig wie die, die ihn noch immer lieben. Doch wer imstande ist, die sozialistische Erfahrung ohne Emotionen zu bearbeiten - unbeeindruckt vom »vernichtenden Mitleid« des Westens –, dem erschließen sich möglicherweise Zusammenhänge, die kein soziales Experiment je wieder nachstellen und der Forschung zugänglich machen kann. In Kenntnis dieser Zusammenhänge erscheinen Antworten auf die soziale Frage lebensnah und realistisch, die ansonsten als überzogene Fantasie zu gelten hätten.

Ursache für die anhaltende Ratlosigkeit ist der gespaltene Ruf des Wettbewerbs: Einerseits garantiert er die lebenserhaltende Leistungsfähigkeit der Gesellschaft, andererseits ruiniert er die sozialen und Umweltverhältnisse derer, die ihn betreiben. Unmöglich einerseits, ihn gänzlich abzuschaffen – längst überfällig andererseits, ihm zu entsagen, zumal der wachsende Schaden von der Politik nur noch – mehr schlecht als recht – verwaltet werden kann. Wer dieses Dilemma zu überwinden trachtet, ist gut beraten, den Blick auf die gegebenen Verhältnisse zu schärfen, denn – nicht alle Menschen sind der Moral des Wettbewerbs erlegen. So gesehen besteht das eigentliche Problem darin, all denen, die den Wettbewerb wollen (und gewiss auch nötig haben!), denselben auch zu lassen, während der »qualifizierte Rest« die notwendige Umverteilung von Arbeit und Einkommen ohne Rückgriff auf Staat und Politik – allein auf der Grundlage eines unternehmerischen Projektes – ins Auge fassen könnte. Nicht die Errichtung eines sozialistischen Staates war seinerzeit im Osten die Lösung des Problems. Ebenso wenig konnte und kann das soziale Heil von einem die gesamte Gesellschaft integrierenden demokratischen Kompromiss erwartet werden (gerade weil sich die Kommunisten dessen bewusst waren, glaubten sie, auf die Demokratie verzichten zu müssen). Aussicht auf nachhaltige Entspannung der unsozialen Verhältnisse aber böte der Aufbau eines weltweit wirkenden, gemeinnützig strukturierten Unternehmensverbundes (sozialistischer Markt), selbstredend auf der Grundlage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Das durch den Wettbewerb sozial benachteiligte untere Drittel der Gesellschaft (zumindest ein Teil davon) steht zur Jahrhundertwende vor der Alternative, entweder das Diktat des Marktes weiter erfolglos zu bekämpfen oder aber zu fragen, inwiefern es möglich ist, ohne Wettbewerb in den eigenen Reihen – in solidarischer Verantwortung zusammenrückend – ein Erwerbsleben oberhalb der bisherigen Lebensqualität zu begründen. Das aber ist nur vorstellbar durch das langsame Wachsen eines gemeinnützigen Unternehmensverbundes, der seinem Wesen nach einen selbstversorgenden Markt-Organismus innerhalb der konventionellen Wettbewerbswelt zu repräsentieren hätte.

Der entscheidende Fehler des real existierenden Sozialismus war, dass den Menschen ein Leistungsanspruch gewaltsam auferlegt wurde, dem sie nicht annähernd gerecht werden konnten. Das heißt, es bestand ein Missverhältnis zwischen gesellschaftlichem Leistungsanspruch einerseits und individueller Leistungsbereitschaft andererseits. (Der überzogene Anspruch bestand darin, bei »ausgeschaltetem Privatbesitz« und »gleichgeschalteten Einkommen« – d. h. ohne stimulierenden Wettbewerb – die im Kapitalismus übliche Arbeitsleistung zu fordern.) Mit Zwang und Umerziehungskonzepten war und ist einem solchen Missverhältnis nicht beizukommen, ergo muss bereits bei der Konstituierung der weiterentwickelten sozialen Struktur dafür gesorgt werden, dass es gar nicht erst entsteht.

Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge muss die soziale Frage in einer neuen, den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts angemessenen Weise gestellt werden, etwa so: Wie viele Menschen weltweit wären gegenwärtig in der Lage, im Rahmen eines gemeinnützigen Unternehmensverbundes – also bei Verzicht auf die Stimuli des Wettbewerbs – ihre volle geistige und körperliche Leistungsbereitschaft anzubieten? Man könnte auch umgekehrt fragen: Wie viele Menschen werden gegenwärtig im Rahmen des Wettbewerbs verhaltensmoralisch unterfordert, da sie die erwartete Leistung ggf. auch bringen würden, ohne »gelockt« oder »getreten« zu werden? (die unerfüllte Hoffnung im realen Sozialismus!) Dabei kreist der Blick des Fragenden besonders über jenen Menschen im unteren Drittel der Gesellschaft, die mit dem Einstieg in einen solchen Unternehmensverbund nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen hätten.

Das alles klingt reichlich utopisch, ist es aber nicht, wenn man genauer hinsieht. Von vornherein klar zu sein scheint, dass ein derartiger Unternehmensverbund auf lokaler Grundlage derzeit kaum eine Chance hätte – es fänden sich zu wenig Menschen, die die notwendigen Voraussetzungen dafür erfüllten. Anders lägen die Dinge bei einem globalen Ansatz, der einen Mangel an geeigneten Bewerbern kaum befürchten ließe (gemeint ist die für das Anlassen eines solchen Unternehmens notwendige Mindestzahl). Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre ein derartiges Projekt allein aus technischen Gründen ein absurdes Hirngespinst gewesen – nicht so im Jahre 2000! Wenn ein modernes Unternehmen, beispielsweise der Automobil- oder Elektro-nikbranche, in seinen Produktions- und Absatzstrukturen weltweit aufgesplittet existieren und erfolgreich arbeiten kann, warum sollte sich dann nicht auch ein sozial funktionierender globaler Unternehmensverbund im Sinne eines sich selbst tragenden, gemeinnützigen Marktes realisieren lassen? Keine Ideologie und keine Macht der Welt würde die Menschen zwingen, einem solchen Verbund beizutreten, und sie könnten ihn auch jederzeit wieder verlassen (die verhängnisvolle Unmöglichkeit im realen Sozialismus). Das funktionierende Beispiel aber würde seine ermutigende Wirkung auf die Enttäuschten und Erniedrigten nicht verfehlen, und auch so mancher Erfolgreiche würde seine Zelte auf dem Terrain des Wettbewerbs abbrechen und ins Lager der »gemeinnützigen Konkurrenz« überlaufen, um sich dort einer begeisternden Aufgabe zu stellen. – Irgendwann in weiter Ferne käme die soziale Entwicklung der Weltgesellschaft durch das sich ändernde Verhältnis zweier Märkte zum Ausdruck: Der per Wettbewerb betriebene Markt würde – dem Gesetz egoistischer Rationalisierung genügend – langsam, aber unaufhaltsam schrumpfen, der gemeinnützig betriebene hingegen könnte – den Opfern des Fusions- und Rationalisierungszwanges eine Chance und der Umwelt Schutz bietend – in gleichem Maße wachsen.

Rein äußerlich würden sich die Mitglieder des gemeinnützigen Unternehmensverbundes kaum von den konventionellen Wettbewerbern unterscheiden. Sie hätten ein vorerst sicherlich bescheidenes, aber menschenwürdiges Einkommen und – könnten nicht arbeitslos werden, da der Markt aus nichtkonkurrierenden, sich gegenseitig tragenden Unternehmen bestünde. Selbstverständlich müsste die auf einem höheren sozialen Niveau arbeitende Unternehmensstruktur von der wetteifernden Umwelt abgegrenzt werden, aber nicht durch eine abriegelnde Staatsform, sondern lediglich auf die gleiche Art und Weise, wie sich zwei Unternehmen voneinander abgrenzen müssen, um ungestört arbeiten zu können. Während seinerzeit der sozialistische Staat seine Leistungsdrücker schon aus ideologischen Gründen behalten musste (sie durften nicht arbeitslos und schon gar nicht »aus dem System gesetzt« werden), könnte sich der gemeinnützige Unternehmensverbund von jedem seiner Mitarbeiter bei Bedarf auch wieder trennen und so seine Leistungsfähigkeit erhalten.

Die für das Gelingen des Projektes entscheidende Regel lautet: Wer nicht ohne den (gnadenlosen) Wettbewerb leben kann, wird mit ihm leben müssen! Der Not gehorchend hatte man im realen Sozialismus diese alles entscheidende Maxime passend gemacht: Wer nicht ohne den Wettbewerb leben konnte – es waren die meisten –, hat dennoch ohne ihn leben müssen! Dieses gravierende soziale Missverständnis ist wohl das eigentliche bis heute weithin unentdeckte Geheimnis des gescheiterten Systems.

Es ist schon bemerkenswert: Genau zu der Zeit, als im Osten der Untergang des real existierenden Sozialismus besiegelt wurde, begann im Westen die Entwicklungphase der Globalisierung, die im Grunde nichts anderes darstellt als das Ergebnis eines extremen Durchsetzungswillens, der – verbunden mit den unglaublichen Möglichkeiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts – schließlich alle räumlichen und zeitlichen Grenzen sprengt. Dieser turbokapitalistischen, globalen Wettbewerbsentwicklung, die letztlich immer wieder jedwede lokale sozialpolitische Regelung unterläuft, ist, wenn überhaupt, nur mit einer global wirksamen Kompensationsstrategie beizukommen. – Die zwingenden Erkenntnisse aus dem Scheitern des realen Sozialismus, verbunden mit den technisch-organisatorischen Möglichkeiten, die der Globalisierungsvorgang eröffnet, lassen einen Ausweg aus der Wettbewerbsmisere begehbar – zumindest aber erforschbar – erscheinen.

Offen bleibt die Frage nach der einleitenden Finanzierung eines solchen Unternehmens, denn das allgewaltige Kapital sitzt ja gerade in jenen oberen zwei Dritteln der Gesellschaft, denen das Wohl und Wehe des unteren Drittels kaum am Herzen liegt. Und wer überhaupt würde einen sozialen Alleingang aktiver Kreise des unteren Drittels befürworten und unterstützen? Was sagt die Wissenschaft dazu, oder bleibt sie stumm (der Marktwert solcher Forschungen scheint nicht gerade ermutigend)? – Der Visionär lässt sich durch derlei Fragen nicht beirren. Man mag über den realen Sozialismus denken wie man will – am Geld ist seine ursprüngliche Entstehung jedenfalls nicht gescheitert, und Geld konnte diese Entstehung letztlich auch nicht verhindern. Der Fortschritt hat sich noch immer Bahn gebrochen – ungeachtet aller schwerwiegenden Irrtümer, mit denen er nicht selten belastet war. So wird es auch im 21. Jahrhundert bleiben.

Mit dem Niederhalten sozialistischer Staaten konnte sich die freie Welt am Ende rühmlich profilieren, mit dem Aushalten eines sozialistischen Marktes aber hätte sie ihren Offenbarungseid zu leisten.

 

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© 2008 Christian Sichler